Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Autoren: Bernhard Schlink
Vom Netzwerk:
ein einziges langes Treffen. Seit unserem Gespräch waren sie immer am Nachmittag:wenn sie Spätschicht hatte, von drei bis halb fünf, sonst um halb sechs. Um sieben wurde zu Abend gegessen, und zunächst drängte Hanna mich, pünktlich zu Hause zu sein. Aber nach einer Weile blieb es nicht bei den eineinhalb Stunden, und ich fing an, Ausreden zu erfinden und das Abendessen auszulassen.
    Das lag am Vorlesen. Am Tag nach unserem Gespräch wollte Hanna wissen, was ich in der Schule lernte. Ich erzählte von Homers Epen, Ciceros Reden und Hemingways Geschichte vom alten Mann und seinem Kampf mit dem Fisch und dem Meer. Sie wollte hören, wie Griechisch und Latein klingen, und ich las ihr aus der Odyssee und den Reden gegen Catilina vor.
    »Lernst du auch Deutsch?«
    »Wie meinst du das?«
    »Lernst du nur fremde Sprachen, oder gibt es auch bei der eigenen Sprache noch was zu lernen?«
    »Wir lesen Texte.« Während ich krank war, hatte die Klasse »Emilia Galotti« und »Kabale und Liebe« gelesen, und demnächst sollte darüber eine Arbeit geschrieben werden. Also mußte ich beide Stücke lesen, und ich tat es, wenn alles andere erledigt war. Dann war es spät, und ich war müde, und was ich las, wußte ich am nächsten Tag schon nicht mehr und mußte ich noch mal lesen.
    »Lies es mir vor!«
    »Lies selbst, ich bring’s dir mit.«
    »Du hast so eine schöne Stimme, Jungchen, ich mag dir lieber zuhören als selbst lesen.«
    »Ach, ich weiß nicht.«
    Aber als ich am nächsten Tag kam und sie küssen wollte, entzog sie sich. »Zuerst mußt du mir vorlesen.«
    Sie meinte es ernst. Ich mußte ihr eine halbe Stunde lang »Emilia Galotti« vorlesen, ehe sie mich unter die Dusche und ins Bett nahm. Jetzt war auch ich über das Duschen froh. Die Lust, mit der ich gekommen war, war über dem Vorlesen vergangen. Ein Stück so vorzulesen, daß die verschiedenen Akteure einigermaßen erkennbar und lebendig werden, verlangt einige Konzentration. Unter der Dusche wuchs die Lust wieder. Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.
    Sie war eine aufmerksame Zuhörerin. Ihr Lachen, ihr verächtliches Schnauben und ihre empörten oder beifälligen Ausrufe ließen keinen Zweifel, daß sie der Handlung gespannt folgte und daß sie Emilia wie Luise für dumme Gören hielt. Die Ungeduld, mit der sie mich manchmal bat weiterzulesen, kam aus der Hoffnung, die Torheit müsse sich endlich legen. »Das darf doch nicht wahr sein!« Manchmal drängte es mich selbst weiterzulesen. Als die Tage länger wurden, las ich länger, um in der Dämmerung mit ihr im Bett zu sein. Wenn sie auf mir eingeschlafen war, im Hof die Säge schwieg, die Amsel sang und von den Farben der Dinge in der Küche nur noch hellere und dunklere Grautöne blieben, war ich vollkommen glücklich.

10
     
    Am ersten Tag der Osterferien stand ich um vier auf. Hanna hatte Frühschicht. Sie fuhr um Viertel nach vier mit dem Fahrrad zum Straßenbahndepot und um halb fünf mit der Bahn nach Schwetzingen. Auf der Hinfahrt sei, so hatte sie mir gesagt, die Bahn oft leer. Erst auf der Rückfahrt werde sie voll.
    Ich stieg bei der zweiten Haltestelle zu. Der zweite Wagen war leer, im ersten stand Hanna beim Fahrer. Ich zögerte, ob ich mich in den vorderen oder den hinteren Wagen setzen sollte, und entschied mich für den hinteren. Er versprach Privatheit, eine Umarmung, einen Kuß. Aber Hanna kam nicht. Sie mußte gesehen haben, daß ich an der Haltestelle gewartet hatte und eingestiegen war. Deswegen hatte die Bahn gehalten. Aber sie blieb beim Fahrer stehen, redete und scherzte mit ihm. Ich konnte es sehen.
    Bei einer nach der anderen Haltestelle fuhr die Bahn durch. Niemand stand und wartete. Die Straßen waren leer. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und unter weißem Himmel lag alles blaß in blassem Licht: Häuser, parkende Autos, frisch grünende Bäume und blühende Sträucher, der Gaskessel und in der Ferne die Berge. Die Bahn fuhr langsam; vermutlich war der Fahrplan auf Fahr- und Haltezeiten angelegt und mußten die Fahrzeiten gestreckt werden, weil die Haltezeiten entfielen. Ich war in der langsam fahrenden Bahn eingeschlossen. Zuerst saß ich, dann stellte ich mich auf die vordere Plattform und versuchte, Hanna zu fixieren; sie sollte meinen Blick in ihrem Rücken spüren. Nach einer Weile drehte sie sich um und sah mich angelegentlich an. Dann redete sie wieder mit dem Fahrer. Die Fahrt ging weiter.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher