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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist
Autoren: Rose M J
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fiel ihm noch etwas ein, und ihm wurde übel. Zwei Mal in den letzten acht Monaten hatte Samimi der stellvertretenden Kuratorin der Abteilung für Islamische Kunst kleine Kunstobjekte überbracht. Angeblich waren es Schenkungen eines reichen Iraners, der nach Aussage Taghinias anonym bleiben wollte.
    „Was ist mit den Objekten, die ich Deborah Mitchell übergeben habe … Gehört sie auch zu diesem Plan?“
    „Eine Art Versicherung.“ Taghinia nickte.
    „Sind Abhörwanzen in den Objekten?“
    „Nein.“ Taghinia lachte. „Die Gegenstände selbst sind authentisch. Ich wollte, dass du jemanden aus dem Museum kennenlernst, der über die Sammlung Islamischer Kunst Bescheid weiß.“
    Samimi schaute auf seine gespreizten Finger auf der Tischplatte. Da hatte er gedacht, er hätte seinen Boss überlistet, aber offenbar hatte er selbst doch ein paar wichtige Memos verpasst. „Das Met ist eine der sichersten Institutionen der Welt.“
    „Soll heißen?“
    „Diebstahl ist ein Ding der Unmöglichkeit.“
    „Das klingt, als wärst du beeindruckt von dem Museum. Stimmt das? Diese Deborah Mitchell … bedeutet sie dir etwas?“
    Seit dem ersten Tag, als Samimi die große Eingangshalle des Metropolitan Museums of Art betreten hatte, war er vollkommen fasziniert von all dem Marmor und Stein, der kühlen Luft, geschwängert vom Duft der riesigen Blumenarrangements in den Alkoven, der klassischen Beaux-Arts-Architektur und den endlosen Flügeln, die in immer weitere endlose Flügel führten, in denen die künstlerischen Errungenschaften einer großen Kultur nach der anderen zur Schau gestellt wurden. Es war schwer für ihn, Deborah nicht als Teil des Ortes zu sehen, an dem sie arbeitete. Er hatte viele Frauen in New York kennengelernt und fand etliche begehrenswert. Doch sie war die Einzige, mit der er nicht geflirtet hatte. Deborah gehörte einfach zum Metropolitan Museum of Art.
    „Natürlich nicht, aber … Was du vorschlägst … das ist Wahnsinn, Farid! Dir ist klar, dass wir von einer zweieinhalb Meter großen Statue aus Marmor sprechen. Ich weiß, es ist ein sehr bedeutendes Artefakt, aber …“
    „Stell dich nicht dümmer, als du bist! Hier geht es um viel mehr als nur ein Artefakt.“ Er zog an seiner Zigarre, und seinereptilienartigen Augen verengten sich. „Bei der Suche nach den Unterlagen für Reza ist unser Minister auf ein paar Dokumente gestoßen, die er weder dem Anwalt noch sonst jemandem gezeigt hat. Anscheinend ist der Hypnos eine Art okkultistischer Landkarte. Darin ist das Geheimnis verborgen, wie der Mensch seine eigenen inneren Kräfte nutzen und höhere Sphären des Bewusstseins erreichen kann. Visionen, Hellseherei, Voraussagen, außerkörperliche Erfahrungen – das alles wird dadurch möglich. Mit diesen Kräften genügt allein die Vorstellungskraft des Menschen, um die Realität zu verändern. Du brauchst dir nur vorzustellen, du würdest jemanden umbringen. Die Kraft deiner Fantasie besorgt den Rest.“
    „Diesen Quatsch glaubst du nicht im Ernst!“
    „Gibt es etwas Wertvolleres als Potenzial, Ali? Als eine Chance? Als ein Versprechen oder eine Drohung? Hypnos und seine Geheimnisse stehen uns von Rechts wegen zu. Wir wollen sie zurückhaben.“ Er schnippte ein überlanges Aschenstück in einen Kristallaschenbecher. „Koste es, was es wolle.“

3. KAPITEL
    Die Tugenden, die wir im Laufe eines Lebens erwerben und die langsam in uns reifen, bilden die unsichtbaren Brücken, die unsere jetzige Existenz mit den anderen verbindet – Existenzen, an die sich nur der Geist entsinnt, denn Materie hat keine Erinnerung an Spirituelles.
    – Honoré de Balzac, „Seraphita“ –
    Der schlaksige Mann schlenderte mit unbekümmerten Schritten die enge Wiener Gasse entlang. Er wirkte völlig sorglos, ganz so, als kenne er Schicksalsschläge oder Krankheit nur aus den Erzählungen anderer. Die Steinplatten unter seinen Füßen schienen nur für ihn die Gasse zu pflastern, und er schritt aus, als lägen die Häuser im strahlenden Sonnenschein. Dabei war es mitten in der Nacht, es war windig, und ein kalter Platzregen kam herunter, mit dem man im April, aber bestimmt nicht im Mai rechnete.
    Er war erst seit sechs Tagen in der Stadt, doch hatte er schon genug gesehen, um eine Abneigung gegen Wien zu entwickeln. Müde fühlte die Stadt sich an, als lägen ihre Geheimnisse wie schwere Bürden auf den Schultern ihrer Bewohner. Bürden, die sich nicht abschütteln ließen und die sie kaum mehr tragen
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