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Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)

Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)

Titel: Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
Autoren: Frank Patalong
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wurde, hatte gute (wenn man das so nennen will) Chancen, in besseren Schuhgeschäften noch bewusst ein »Schuh-Fluoroskop« in Aktion erleben zu dürfen.
    Die Geräte waren anfangs gar nicht und später nur unzureichend abgeschirmt. Sie waren schon deshalb echte »Strahler« – dazu kamen gerade in den frühen Geräten völlig überdimensionierte Röntgenröhren. Bis in die 1950er Jahre hinein verfügten die meisten Geräte über einen Wählschalter, über den sich auch ein etwas länger sichtbares Bild einstellen ließ. 5 Sekunden waren die Mindest-Bestrahlungszeit, 15 bis 20 Sekunden ein verbreiteter Standard, und bis zu 45 Sekunden waren möglich. So konnte man das Bild von Nachwuchs’ Füßchen in aller Ruhe studieren.
    Die dabei verabreichten Strahlendosen lagen pro Minute mehr als zehn Mal über der zulässigen Dosis, die man medizinisch-technischem Personal heute pro Jahr zumutet: Mehr als 20 Millisievert pro Jahr soll ein mit Strahlengeräten arbeitender Profi heute nicht abbekommen – die Schuh-Durchleuchtungsgeräte emittierten satte 200 bis 750 Millisievert pro Minute. Das ist mehr, als etwa Aufräumarbeitern im havarierten Atomkraftwerk Fukushima zugemutet wurde (wobei es dort natürlich um ganz andere Formen von Strahlung ging, die zudem den gesamten Körper betrafen und nicht nur die Füße). Dass die Schuh-Fluoroskope ein höchst gefährlicher Irrweg der Röntgennutzung waren, bei dem Experten bis heute ein Schauder über den Rücken läuft, ist trotzdem unbestritten: Rückblickend gelten sie als einer der absurden Blinden Flecke für die Risiken neuer Technologien. Verwunderlich, wenn man bedenkt, wie schnell man doch auf die mitunter tödlichen Gefahren von Röntgen-Überdosierungen aufmerksam geworden war.
    Belastbare Studien darüber, ob und in welchem Maße das Röntgen-Bombardement im Schuhladen Verbrennungen, Leukämie oder Krebsgeschwüre verursachte, gibt es nicht. Dass so etwas passierte, ist aber wahrscheinlich. Zumindest auf Verkäuferseite – die Damen wurden schließlich fast ganztägig bestrahlt, wenn auch meist auf Distanz – sind Fälle von Verbrennungen, Dermatitis und anderen Schädigungen dokumentiert. In einem Fall wird eine Armamputation in den USA auf den Umgang mit dem Gerät zurückgeführt: Da ergänzte eine Verkäuferin ihre röntgengestützte Beratung offenbar häufig durch den klassischen Zehendrück-Test – bei laufendem Gerät.
    Als die Schädlichkeit der Apparate schließlich erkannt wurde, kam es sehr schnell zu Verboten, per landesweitem Gesetz zumindest in den USA, wo sie in den 1960er Jahren aus den Läden verschwanden. In Europa dauerte das länger. Ab Ende der 1960er gab es zwar Empfehlungen, die Maschinen außer Betrieb zu nehmen, verschwunden sind die meisten aber erst in den frühen 1970er Jahren. In der Schweiz soll ein übersehenes Schuh-Fluoroskop sogar bis 1989 regulär eingesetzt worden sein, und bis heute findet man im Antiquitätenhandel mitunter noch funktionierende Geräte.
    Bis zu seinem leisen Abgang aber gehörte das Schuh-Fluoroskop zu den im Wortsinn populärsten Anwendungen der Röntgenstrahlung überhaupt – hart an der Grenze zwischen Nutzanwendung und Unterhaltungselektronik. Denn populär wurden sie nicht, weil sie nötig waren, sondern vor allem, weil sie Spaß machten.
    Die Durchleuchtung von Schuhen – zunächst, um Nägel darin zu finden, die Schmerzen verursachen könnten – gehörte zu den frühesten Ideen für Nutzanwendungen jenseits der Medizin, nachdem Wilhelm Conrad Röntgen 1895 die nach ihm benannte Röntgenstrahlung entdeckte.
    Es ist wahrscheinlich, dass bereits kurz nach 1910 erste, von Tüftlern zusammengeschusterte Röntgen-Fluoroskope dazu benutzt wurden, Schuhe sowohl auf Fabrikationsfehler als auch auf ihre Passform hin zu prüfen – völlig ohne Schutzmaßnahmen, wie das zu dieser Zeit so üblich war. Wirklich dokumentieren lässt sich die Geschichte des Schuh-Fluoroskops letztlich nur anhand der Patente, die dafür beantragt worden sind.
    Die typische Bauform des Schuh-Fluoroskops oder Pedoskops, wie es in England und im deutschsprachigen Raum oft genannt wurde, entstand wohl 1919. Die Grundkonstruktion mit ihrer Plattform, auf die man sich stellte, unten einen Fuß in die Maschine steckte und oben durch ein oder mehrere Okulare auf eine Fluoreszenzplatte sah, auf der sich kurzzeitig das Röntgenbild abzeichnete, war ein Idee, die quasi in der Luft lag: Sie wurde an etlichen Orten mehr oder minder zeitgleich
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