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Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)

Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)

Titel: Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
Autoren: Frank Patalong
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Impulsgeschwindigkeit?
    Das Plastik ähnelte dem Material uralter Telefone; Bakelit nennt man das, erinnerte ich mich. Hergestellt hatten es offenbar die »Vereinigt. Fabriken elektr. Apparate«.
    »Und wie alt ist das Ding?«, fragte ich.
    Sie zuckte mit den Schultern. Meine eifrige Trödelverkäuferin war vielleicht 15, 16 Jahre jung. In ihrer Welt schied sich die Zeit vermutlich in zwei Phasen:
ab 1990 (der Zeitpunkt, an dem dank ihrer Geburt Zeitrechnung und Zivilisation begannen);
vor 1990 (die Steinzeit; als Eltern noch jung waren, bizarre Tänze tanzten und absurde Frisuren trugen, am Rhein noch das Mammut zur Tränke ging und über dem Westerwald der Flugsaurier kreiste, während sich die deutsche Wehrmacht mit Darth Vader und den römischen Legionen ein Gefecht im Teutoburger Wald lieferte).
    Eigentlich für die medizinische Anwendung vermarktet, wurden Hochfrequenzgeräte auch zur sexuellen Stimulation eingesetzt.
    Ob dieser Kasten da nun 50, 70 oder 100 Jahre alt war, war keine Frage, die sie beantworten oder überhaupt für relevant hätte halten können: Er war einfach aus der Steinzeit. Uralt.
    Sie fragte: »Soll ich eben meine Oma anrufen?«
    »Nein danke, nicht nötig«, sagte ich. Und: »Was soll die Kiste denn kosten?«
    Sie schaute mir in die Augen und machte ein gequältes Gesicht. »Sechzig«, stieß sie hervor, »hat meine Oma gesagt. Ich soll das Ding auf keinen Fall für weniger abgeben!«
    Sie merkte sofort, dass mir das zu viel war. Wieder flatterte sie umher wie ein Vogel in Panik. Sie sah ihren Umsatz entschwinden, ihre Chance darauf, dass der am Tapeziertisch verbrachte Tag doch nicht völlig vergebens war. Ich wusste, dass sie mir den Kasten gern für weniger geben wollte. »Was würden Sie denn bezahlen? Ich kann ja meine Oma anrufen!«
    Bei dieser Variante läuft der Strom über die Fingerspitzen des Masseurs – und verursacht Wärmegefühle und kleine, prickelnde Schocks.
    Ich überlegte. Wie viel ist ein kaputtes altes Elektrogerät unbestimmter Natur wert? Das Kabel war ordentlich verschmort und ziemlich alt. Der Stecker erinnerte an unsere heutige Version, entsprach jedoch nicht ganz dem Schuko-Standard. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit war das Ding zwar chic, aber Schrott: ein Regal-Utensil, ein weiterer Staubfänger, ein Sammlerobjekt. Was durfte mir das wert sein, ohne dass mir mein Schatz (der, mit dem ich verheiratet bin) wieder einmal sagen würde: »Mann, die hat dich kommen sehen und gedacht: ›Toll, der guckt so blöd, den nehme ich jetzt aus!‹«
    »Vierzig?« fragte ich sondierend.
    Das Handy war derart schnell an ihrem Ohr, dass sie schon vorher gewählt haben musste. Sie diskutierte, drehte sich weg, entfernte sich ein, zwei Schritte. Verhandelte für mich. Ich konnte zwar nicht hören was, aber die Art wie sie verhandelte war die einer Enkelin, die auf bewährte Weise um einen großmütterlichen Gefallen bettelt. Sie quengelte so, dass keine normale Großmutter ihr eine Bitte abschlagen konnte. Sie war genauso alt wie meine Tochter damals, und sie tat mir in dieser Situation schon wieder leid. Dann richtete sie sich auf, drehte sich um, sagte noch etwas, das ich nicht verstand, und ihre Augen funkelten. »Okay«, sagte sie dann zu mir und steckte das Handy weg. »War nicht leicht, weil sie echt daran hing.«
    Der Kasten wechselte in meinen Besitz. Was mich daran mehr als alles andere interessierte war das offenbar sehr emotionale Verhältnis, das die Oma zu dieser Maschine hatte.
    Auf dem Trödelmarkt in Blankenberg, an diesem Nachmittag im Frühsommer 2005, begann ich, Geschichten über frühe Technik und die Reaktionen darauf zu sammeln. Was ich herausfand? Dass viele vermeintlich neue Ideen in Wahrheit steinalt sind; dass irrationale, scheinbar völlig hirnfreie Reaktionen auf neue technologische Spielereien absolut kein Privileg der heutigen Zeit sind, und dass die Technologien, die am meisten begeistern, solche sind, die unseren Spieltrieb, unsere Eitelkeit oder unsere Lust befördern.
    Natürlich ahnte ich auch längst, was ich auf diesem Trödelmarkt gekauft hatte. »Was ist denn das?«, fragte Fiona später: »Hast Du wieder zugeschlagen?«
    Sie ist daran gewöhnt, dass ich auf Trödelmärkten alte Godzillafilme kaufe, belgische Comics und andere wichtige, nützliche Dinge.
    »Ein achtzig Jahre alter Vibrator«, sagte ich, denn das war meine Theorie. Ganz richtig war das zwar nicht, wie ich später herausfinden sollte, prinzipiell aber schon. Das Ding
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