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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene
Autoren: Franz Kafka
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achtgeben, sagte sich Karl und freute sich als er bei einem Seitwärts- schauen bemerkte, daß in die Figur des Heizers das Le- ben zurückzukehren begann.
    „Ich lebe seit allen den langen Jahren meines amerika- nischen Aufenthaltes – das Wort Aufenthalt paßt hier allerdings schlecht für den amerikanischen Bürger der ich mit ganzer Seele bin – seit allen den langen Jahren lebe ich also von meinen europäischen Verwandten voll- ständig abgetrennt, aus Gründen die erstens nicht hier- hergehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr hernehmen würde. Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich gezwungen sein werde, sie mei- nem lieben Neffen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeiden lassen wird."
    „Er ist mein Onkel, kein Zweifel", sagte sich Karl und lauschte. „Wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen."
    „Mein lieber Neffe ist nun von seinen Eltern – sagen wir nur das Wort, das die Sache auch wirklich bezeich- net – einfach beiseitegeschaf worden, wie man eine Katze vor die Tür wirf, wenn sie ärgert. Ich will durch- aus nicht beschönigen, was mein Neffe gemacht hat, daß er so gestraf wurde – beschönigen ist nicht amerikani- sche Art – aber sein Verschulden ist von der Art daß dessen einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält."
    „Das läßt sich hören", dachte Karl, „aber ich will nicht daß er es allen erzählt. Übrigens kann er es ja auch nicht wissen. Woher denn? Aber wir werden sehn, er wird schon alles wissen."
    „Er wurde nämlich", fuhr der Onkel fort und stützte sich mit kleinen Neigungen auf das vor ihm eingestemm- te Bambusstöckchen wodurch es ihm tatsächlich gelang, der Sache einen Teil der unnötigen Feierlichkeit zu nehmen, die sie sonst unbedingt gehabt hätte – „er wur- de nämlich von einem Dienstmädchen Johanna Brum- mer, einer etwa fünfunddreißigjährigen Person verführt. Ich will mit dem Worte verführt meinen Neffen durch- aus nicht kränken, aber es ist doch schwer, ein anderes gleich passendes Wort zu finden."
    Karl der schon ziemlich nahe zum Onkel getreten war, drehte sich hier um, um den Eindruck der Erzäh- lung von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Keiner lachte, alle hörten geduldig und ernsthaf zu. Schließlich lacht man auch nicht über den Neffen eines Staatsrates bei der ersten Gelegenheit die sich darbietet. Eher hätte man schon sagen können, daß der Heizer wenn auch nur ganz wenig Karl anlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreulich und zweitens entschuldbar war, da ja Karl in der Kabine aus dieser Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Ge- heimnis hatte machen wollen.
       „Nun hat diese Brummer", setzte der Onkel fort, von meinem Neffen ein Kind bekommen, einen gesun- den Jungen, welcher in der Taufe den Namen Jakob erhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit, welche selbst in den sicher nur ganz nebensächlichen Erwähnungen meines Neffen auf das Mädchen einen großen Eindruck gemacht haben muß. Glücklicherwei- se, sage ich. Denn da die Eltern zur Vermeidung der Ahmentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heran- reichenden Skandales – ich kenne wie ich betonen muß, weder die dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhält- nisse der Eltern, sondern weiß nur von zwei Bettelbrie- fen der Eltern aus früherer Zeit, die ich zwar unbeant- wortet gelassen aber aufgehoben habe und welche meine einzige und überdies einseitige briefliche Verbindung mit ihnen in der ganzen Zeit bedeuten – da also die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn meinen lieben Neffen nach Ameri- ka haben transportieren lassen, mit unverantwortlich un- genügender Ausrüstung, wie man sieht – wäre der Jun- ge, wenn man von den gerade noch in Amerika lebendi- gen Zeichen und Wundern absieht, auf sich allein ange- wiesen, wohl schon gleich in einem Gäßchen im Hafen von Newyork verkommen, wenn nicht jenes Dienst- mädchen in einem an mich gerichteten Brief, der nach langen Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz kam, mir die ganze Geschichte, samt Personenbeschreibung mei- nes Neffen und vernünfigerweise auch Namensnen- nung des Schiffes mitgeteilt hätte. Wenn ich es darauf angelegt hätte, Sie meine Herren zu unterhalten, könnte ich wohl einige Stellen jenes Briefes" – er zog zwei rie- sige eng beschriebene Briefogen aus der Tasche und schwenkte sie – „hier
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