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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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zahlen. Insgesamt fünf Pfund. Heutzutage bekam man für Ratten zehnmal so viel wie für das Schwemmgut aus den Kanälen, da biss die Maus keinen Faden ab.
    Nebelschleier huschten an Tom vorüber, als er sich in einen Bogengang duckte, der nicht breiter war als eine Tür. Er öffnete sich zu einer Art Hof, sechs Meter lang und nicht mehr als sechzig Zentimeter breit, umgrenzt von hohen Holzhäusern. In den oberen Stockwerken hatten etliche Räume einen Vorsprung, wodurch sich ein Dach über den ganzen Hof bildete, welches den Himmel vollständig verbarg. Der Hof selbst mündete in eine schmale Gasse, diese in eine weitere und noch eine, allesamt verwinkelt und kreuz und quer verlaufend. Am Weg drängten sich baufällige Häuser, die in ihrem halb zerfallenen Zustand wie Betrunkene aneinander lehnten.
    In den Gassen wimmelte es von zerlumpten Kindern. Einige versuchten, Tom bei der Hand zu fassen oder ihn bettelnd am Rocksaum zu zupfen, aber er schüttelte sie ab, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Er ging mit schnellen Schritten, schlängelte sich mühelos wie ein Aal durch das Gewirr der Mietskasernen, bis er an eine Stelle kam, wo zwei bröckelnde Backsteinmauern aneinander stießen. Ein verrosteter Eisenträger ragte über ihm aus der Wand, die Glaskugel der Gaslaterne war schon lange zerbrochen. Selbst der Nebel tat sich schwer, bis hierher durchzudringen. Nur der dünne Strich eines dunkleren Schattens verriet, dass die eine Wand ein wenig vor die andere gesetzt war und einen winzigen Innenhof verbarg, nicht breiter als die Spannweite der ausgestreckten Arme eines Mannes. In einer Ecke befand sich eine niedrige, halb verfallene Tür, die schief in den Angeln hing. Tom öffnete sie vorsichtig und stieg mit eingezogenem Kopf eine Treppe in einen fensterlosen Keller hinab.
    In der modrigen Düsternis griff er nach der Laterne, die an einem Nagel hing, und holte die Drahtkäfige aus einer Nische. Sie waren breit und flach, ähnlich denjenigen, in denen man Küken zum Markt trug. Wenn es sein musste, konnte man hundert Ratten in einen solchen Käfig sperren, übereinander gestapelt wie Schüsseln. Tom tastete die Ecken der Käfige nach Löchern ab. Es war kein Spaß, wenn eine Ratte entkam, nicht, wenn man im Tunnel steckte. Bei Nebel waren die Ratten wilder und konnten einem gefährlich werden. Nebel machte sie ganz verrückt, obwohl Tom ums Verrecken nicht hätte sagen können, weshalb. Unter der Erde spielte es doch nicht die geringste Rolle, ob sechs Meter weiter oben die Leute kaum noch die eigene Hand vor den Augen oder die goldenen Flammen des Monuments klar erkennen konnten. Außerdem fanden die Viecher hier unten sogar blind ihren Weg, genau wie Tom selbst. Es war vertane Zeit, die Ratten verstehen zu wollen. Sie konnten einen zwar übel beißen, aber sie waren dumm wie Bohnenstroh. Er und Joe fingen sie nun schon seit drei Jahren immer auf die gleiche Weise, und sie kapierten es einfach nicht. Natürlich beklagte er sich nicht darüber. Ohne die Ratten wären es für ihn schlimme Zeiten. Die Arbeit war vielleicht nicht so aufregend wie das Schwemmgutsammeln, bei dem man nie wusste, was einen hinter der nächsten Ecke erwartete. Aber es war ein Geschäft, und dafür musste man dankbar sein. Es gab nicht viele in seinem Alter, die noch ein neues Gewerbe erlernen konnten, selbst wenn es eines zu erlernen gab. Er selbst hätte sich auf knapp sechzig geschätzt, obgleich er noch kräftig war und noch einige Zähne besaß. Er konnte von Glück sagen, dass er die Ratten hatte. Heutzutage änderte sich alles so rasant, dass man meinen konnte, jeden Tag würde eine neue Gemeinheit ersonnen, um den einfachen Leuten das Brot vor der Nase wegzuschnappen.
    Beim Anblick der Ratten bekam er jedoch immer noch eine Gänsehaut, auch nach all den Jahren. Eigentlich seltsam, wenn man es sich genau überlegte. Oben hatten sie ihn nie gestört. Dort, wo er herstammte, gehörte ihr ständiges Scharren, ihr Huschen über den Fußboden, das abwechselnde Wachehalten bei dem Allerkleinsten, wenn es schlief, damit es nicht gebissen oder verschleppt wurde, ebenso zum Leben wie der Schlamm. Aber unten in den Tunneln war das anders. Diese Ratten, die sich in riesigen, wimmelnden Haufen in ihren Höhlen im Mauerwerk zusammenrotteten, manche so groß wie Hunde, gebärdeten sich völlig anders. Als wären sie es, die hier das Sagen hatten, und als würden sie einen nur deshalb vorläufig in Ruhe lassen, weil sie Besseres zu tun
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