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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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einmal, diesmal tiefer, und spürte, wie er von einer Ruhe erfüllt wurde, die zugleich friedlich und triumphal war. Blut schoss aus den langen Schnitten und tropfte auf das Tuch in seinem Schoß. Er verrieb es über die Haut. Es war warm, real, wunderbar. Einem plötzlichen Drang nachgebend, hob er den Arm an den Mund und leckte an dem Blut. Es schmeckte herrlich. Er leckte erneut. Der Schmerz war nun außerhalb seiner selbst, wo er sicher mit ihm umzugehen wusste. Er war wirklich, fest umgrenzt. Etwas, an das er sich halten, das er kontrollieren konnte. Der Sand seines sich auflösenden Ichs rann ihm nicht mehr durch die Finger. Stattdessen begannen sich die Körnchen wieder zusammenzufinden, zu einem festen Ganzen zu fügen. Das trübe Zwielicht in seinem Kopf verdichtete sich, wurde immer dunkler, bis in dessen Zentrum ein einziger heller Lichtstrahl aufleuchtete. Die Muskeln seiner Schenkel spannten sich, als er die Füße gegen den schartigen Ziegelboden drückte. Er fühlte sich stark und bei klarem Verstand. Ein letztes Mal noch schnitt er sich, und der Schmerz stieg triumphierend aus seinem Fleisch auf. Er fing das Blut mit der Hand auf und schloss sie, so dass es ihm durch die Finger rann. Vor reinem Glück hätte er am liebsten laut aufgeschrien.
Ich lebe!,
wollte er schreien, bis die Dunkelheit seine Worte zurückwarf und die Backsteine in ihrer Mörteleinfassung vor dieser unumstößlichen Gewissheit bebten.
Ich, William Henry May aus der York Street  8 , bin am Leben!

II
    D er Langarmige Tom legte den ergrauten Kopf in den Nacken und schnupperte. Einst, es war inzwischen schon lange her, hatte Joe sich einen Spaß daraus gemacht, Tom wegen diesem Geschnuppere aufzuziehen und ihn den Langnasigen Tom, Tom Hundeschnauze oder einfach nur Hund zu nennen, damals, als Tom noch sehr wortkarg war. Joe hatte nicht glauben wollen, dass dieses Schnuppern zu irgendetwas gut sei, bis sie es drüben am King’s Cross nur deshalb noch rechtzeitig aus dem Tunnel geschafft hatten, weil Tom den aufziehenden Regen gerochen hatte; die anderen Kerle waren in dem überschwemmten Kanal ertrunken. Seitdem dachte er anders darüber, obwohl es ihm ein Rätsel blieb, wie Tom es fertig brachte, den Geruch des Regens so deutlich von all den anderen zu unterscheiden. Für Joe vermengten sich sämtliche Gerüche zu einer einzigen großen stinkenden Mixtur, die das spezifische Aroma Londons ausmachte. Nicht so für Tom. Für ihn hatte jedes Stadtviertel seinen unverwechselbaren Geruch, so dass er auch mit geschlossenen Augen sagen konnte, wo er sich gerade befand, ja sogar wie die nächstgelegene Straße hieß. Der Gestank lag in Schichten übereinander, jede so dick und klebrig wie Themseschlamm an den Schuhsohlen. Man musste nur seine Nase benutzen, und schon konnte man sie sauber voneinander trennen.
    Die unterste Gestanksschicht bildeten die Ausdünstungen des Flusses. Sie waberten bis in die Straßen, die etliche Blocks vom Ufer entfernt waren, und genau genommen gab es nicht viele Orte in der Stadt, wo einen an warmen Tagen nicht ihr übler Geruch anwehte. In der Thames Street jedoch war er so hartnäckig wie der Boden unter den Füßen. An nebligen Tagen wie diesem war vom Fluss selbst nichts zu sehen, nicht einmal, wenn man sich über die Kaimauer beugte; dennoch bestand kein Zweifel, dass er vorhanden war. Denn sein Geruch war so dicht und so braun wie seine Fluten. Der Fluss kannte weder Scham noch Anstand. Er versteckte seinen Unrat nicht in den engen Gassen und Elendsquartieren der niedriger gelegenen Stadtteile, wie es die Vertreter der Obrigkeit vielleicht gern gehabt hätten. Vielmehr setzte er sein breites braunes Grinsen auf und floss, ohne sich im Mindesten zu genieren, als großer offener Strom aus Scheiße mitten durch die Hauptstadt, wobei sich die Klümpchen und Klößchen von Arm und Reich unterschiedslos in seinen Fluten gegenseitig anrempelten und aneinander rieben. Die feinen Damen konnten ihre Türen verriegeln und sich auf dem stillen Örtchen noch so bemühen, bloß kein Geräusch zu verursachen – ihre Ausscheidungen stanken genauso wie die aller anderen, und hier draußen fand sich der Beweis. Hier waren ihre intimen Hinterlassenschaften für jedermann klar und deutlich zu sehen wie die Prunkstücke im Kristallpalast. Zu gewissen Zeiten, vor allem morgens und abends, wenn zwanzig Dampfer oder mehr mit ihren großen Schaufelrädern unter der London Bridge hindurchpflügten, war das Wasser so dick und
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