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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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Tom schlank war, hatte Joe mit seinen prallen Schenkeln Kraft wie ein Bulle. Mühelos hievte er sich zwei Käfige auf seine breiten Schultern, während Tom die Laterne an seiner Hacke befestigte und sich vergewisserte, dass in der Geheimtasche seiner Schürze die Handschuhe steckten. Das Fell der Kanalratten war giftig, und wenn man sie packte, wanden sie sich und zappelten wie Straßenjungen, kreischten und bissen mit ihren gelben Zähnen um sich. Man versuchte zu verhindern, sich beißen zu lassen. Ein Rattenbiss hinterließ eine dreieckige Wunde – wie bei einem Blutegel, nur tiefer –, die gehörig blutete. Einmal hatte Tom gesehen, wie ein Mann eine Ratte am Schwanz herumschlenkerte, mehr aus Angeberei als sonst einem Grund, und bevor er sich’s versah, schnellte das Vieh herum und biss ihn in den Arm. Am nächsten Tag war der Arm dick wie ein Schinken und schwarz wie ein Stiefel. Tom wusste nicht, was aus dem Mann geworden war. Er hatte ihn nie mehr wiedergesehen.
    Einen kurzen dicken Knüppel in der Rechten und die Hacke in der Linken, ging Tom auf dem glitschigen Kellerboden voraus. Das Haus hatte einmal eine Senkgrube besessen, deshalb führte der Keller in einen kleinen offenen Abwasserkanal. In besseren Gegenden wäre dieser Kanal aus Backstein gemauert gewesen, mit einer so niedrigen Decke, dass nicht einmal ein Kind hätte stehen können, aber unter dem morschen Füllwerk der Mietskasernen war er weitgehend offen. Die Holzdecke war gleichzeitig der Fußboden in den Zimmern darüber, und weil darin immer wieder Planken fehlten, konnte man, wenn man hochsah, in die leeren Augen der Frauen und Kinder blicken, die auf dem Boden hockten. Meistens waren die Holzplanken so durchlöchert, dass man auf dem Weg durch den Tunnel Geräuschfetzen aus dem Leben von Hunderten Familien aufschnappte: Gekreische, Schreie, Schnarchen. An manchen Stellen hingen schmutzverkrustete Strohbüschel und Lumpen herab und streiften einen am Hut. Einmal hatte Joe an einer solchen Stelle angehalten und gelauscht. Er hatte Tom zugezwinkert und dann mit einer tiefen Stimme losgedonnert, als wäre er der Teufel höchstpersönlich:
»Glaubst du, ich sehe dich nicht, wo du schon mit einem Bein in der Hölle stehst?«
Der Aufschrei und die hastigen Bewegungen, die daraufhin zu hören waren, hätten selbst eine Ratte erbarmt. Tom fürchtete fast, Joe würde ersticken, so schüttelte er sich vor Lachen.
    Nach etwa einem halben Kilometer fiel der Tunnel in einer riesigen Stufe hinab und ging in einen breiteren Abwasserkanal aus Backstein über. Tom und Joe ließen sich hinuntergleiten und wateten Richtung Osten weiter. Auf diesem Untergrund war es einfacher voranzukommen, aber von Zeit zu Zeit mussten sie an den Eisengittern, die nach oben führten, anhalten, um ihre Laternen abzublenden. Sie sprachen kein Wort. Bereits vorher hatten sie sich darauf verständigt, Newgate anzusteuern. Es war schwierig, dorthin zu kommen, weil es in der Nähe keinen Einstieg gab und man sich stattdessen unterirdisch voranarbeiten musste, aber Brasseys Auftrag war ja auch kein gewöhnlicher. In Newgate gab es genügend Ratten, auch in der gewünschten Größe. Direkt unter dem Fleischmarkt war das Abwasser sämig von Blut, Mist und Schlachtabfällen. Diese reichhaltige Nahrung hatte die Ratten von Newgate fett und übellaunig gemacht wie Kirchendiener. Auf der einen Tunnelseite hatten sie es geschafft, sich eine Höhle zu graben, die groß wie ein Zimmer und mehr als zwei Meter hoch war; hier zogen sie ihre Brut auf. Es mussten mehr als achthundert Stück sein, schätzte Tom, die dort wie ein lebendiger Berg aus Asche übereinander krochen und krabbelten. In Newgate hatte noch nie jemand einen dieser Lackaffen aus dem Parlament gesehen.
    Sie waren fast am Ziel. Es stank bestialisch nach verwesendem Fleisch, und auf dem Wasser kräuselte sich ein schmieriger brauner Schaum. An der Stelle, wo sich der Tunnel Richtung Norden wandte, setzte Joe die Käfige ab. Tom nahm die Laterne von der Hacke. Er lehnte den Stiel gegen die Wand und befestigte die Laterne an einer Schlaufe vorn an seiner Segeltuchschürze. So hatte er beide Hände frei und konnte gut sehen. Dann streifte er sich die Stulpenhandschuhe über. Sie waren vor Alter und Dreck ganz steif und bildeten bis ins Detail die Form seiner Hände ab, so dass selbst die geschwollenen Knöchel zu erkennen waren. Er zog sie noch einmal straff, griff nach dem Knüppel und nickte Joe zu. Die Arbeit konnte
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