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Der Verlobte

Der Verlobte

Titel: Der Verlobte
Autoren: Christine Sylvester
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diesem Moment klatschte die Großmutter in die Hände und bat zu Tisch. Hinter einer breiten Flügeltür, die nun geöffnet wurde, protzte eine lange Tafel, an deren Stirnseite der Großvater bereits Platz nahm. Platzkarten bestimmten die Sitzordnung, die Tillmann sogleich eingehend studierte. Er begann seine Runde am Kopfende der Tafel und bemühte sich, die wenigen Namen, die er bislang kannte, zuzuordnen.
    Zur Linken des Großvaters nahmen Onkel Leopold und seine sauertöpfische Lehrerinnentochter gerade ihre Plätze ein, daneben die kusswütigen Damen Tante Lilo und ihre schrille Freundin Elisabeth.
    An der gegenüberliegenden Seite der Tafel, also zur Rechten des Großvaters, saßen Lillys Eltern. Tillmann versuchte, sich an ihre Namen zu erinnern – Louise und Fritz, genau. Dann kamen die Plätze für Lilly und ihn selbst. Ein freier Platz trennte ihn noch von der Großmutter, die das untere Ende der Tafel regierte. »Paul« stand in geschwungenen Buchstaben auf der Platzkarte.
    In diesem Moment trat ein Mann an den Tisch. Tillmann musterte ihn eingehend. Auf den ersten Blick ein sympathischer Kerl, vermutlich um die dreißig wie Tillmann selbst.
    »Paul, dies ist der neue Mann an Lillys Seite und heute Abend auch an deiner«, erklärte die Großmutter. Dann wandte sie sich direkt an Tillmann. »Was unterrichten Sie doch gleich? Kunst und Geografie?«
    »Literatur und Philosophie«, antwortete Lilly.
    »Deutsch und Geschichte«, entgegnete Tillmann im gleichen Augenblick. Er biss sich auf die Unterlippe und sah Lilly an. Sie zog die Augenbrauen zusammen und wirkte leicht verärgert, sagte aber nichts.
    »Na, Sie scheinen mir ja recht umfassende Kenntnisse zu besitzen.« Die Großmutter schmunzelte süffisant. Ganz offensichtlich bedurfte es größerer Komplikationen, um die ehrwürdige alte Dame zu verwirren. »Da werden Sie in meinem Patenkind Paul einen anregenden Gesprächspartner finden«, versprach sie. »Er ist Literaturkritiker, daher rührt vermutlich sein kritisches Gemüt …«
    Paul rang sich ein Grinsen ab. »Aber Tante Ludmilla!«, rief er mit aufgesetzter Empörung und tätschelte der Großmutter den Arm. »Meine liebe Patin meint doch tatsächlich, das Kritisieren sei eine Berufskrankheit. Dabei meckere ich einfach gerne herum. Der Beruf ist also nur eine logische Konsequenz aus meinen Vorlieben.« Er setzte sich und sah Tillmann herausfordernd an. »Und warum sind Sie Lehrer geworden?«
    »Oh, er liebt es, wehrlose Kinder herumzukommandieren«, warf Lilly lachend ein.
    Tillmann grinste etwas verlegen. Warum sagte sie so etwas? Schließlich war das mit dem Lehrerberuf nicht seine Idee gewesen, sondern ihre!
    »Das ist doch ein sinnvoller Beruf, der viel Menschenkenntnis verlangt«, warf die Großmutter ein. »Sie besitzen doch Menschenkenntnis, junger Mann?«
    »Nun ja.« Tillmann warf einen Seitenblick auf Lilly und räusperte sich. »Immerhin habe ich mich in Ihre Enkelin verliebt …«
    »Gut gekontert, Herr Lehrer.« Patenkind Paul deutete Applaus an. »Wo ist denn übrigens der Rest?« Er zeigte auf die drei gegenüberliegenden Gedecke. Die Stühle waren leer.
    Statt einer Antwort erntete er einen strafenden Blick von Lillys Großmutter. Sie winkte dem Personal, die Gesellschaft mit Speisen und Getränken zu versorgen.
    Schweigend löffelten kurz darauf alle ihre Suppe aus dem edlen Porzellan. Nur das zaghafte Klirren der Löffel auf den Tellern war zu hören, und hier und da ein verhaltenes Schlürfen. Diese Stille in einem Raum mit so vielen Menschen war regelrecht unheimlich. Tillmann fühlte sich unbehaglich und irgendwie beobachtet. Als er aufsah, zwinkerten ihm Lillys Tante Lilo und ihre schrille Freundin Elisabeth abenteuerlustig zu.
    »Schauen Sie mal! Der alten Lilo fällt gleich eine Kontaktlinse in die Suppe«, zischte Paul ihm von der Seite ins Ohr.
    Dann klopfte der Großvater mit seinem Löffel an sein Glas, erhob sich und sprach einige salbungsvolle Worte zur Begrüßung. Die Großmutter unterbrach ihn. »Karl-Gunter, du hast etwas vergessen! Schließlich freuen wir uns besonders, dass ihr alle gekommen seid, um diesen schrecklich traurigen Jahrestag mit uns zu begehen.« Sie seufzte. »Zehn Jahre ist es bereits her … Aber dass ihr alle da seid, das gibt uns Kraft.«
    »Oder so«, grummelte der würdevolle alte Herr und setzte sich wieder.
    Ein Jahrestag sollte hier also begangen werden. Lilly hatte gar nichts dergleichen erwähnt. Tillmann sah seine Begleiterin fragend an
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