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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel
Autoren: Tom Harper
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ihn zielte.
    «Scheiße.» Seine Stimme war tonlos, gleichgültig. «Nicht auch noch Sie.»
    «Ich dachte, es wäre Muir. Er ist –»
    In diesem Moment hörte Grant aus der Richtung der Säule schnelle Schritte. Er fuhr herum und sprang auf. Durch den Staub, der noch immer die Sicht trübte, sah er undeutlich eine Gestalt davonrennen. Er gab einen Schuss ab. Als die Gestalt weiterlief, sprintete auch er los.
    Tiefer im Tal wurde die Luft klarer, sodass er Muir jetzt deutlich sehen konnte. Die Schöße seines Jacketts flatterten, und seine drahtigen Arme ruckten krampfhaft, während er auf die Oberkante der Klippe und den Wasserfall zurannte. Er war immer noch bewaffnet. Grant sah, dass er sich umdrehen wollte, und feuerte den Webley sofort noch einmal ab. Es war ein Schuss ins Blaue, denn im vollen Lauf hatte er kaum eine Chance zu treffen, doch Muir überlegte es sich daraufhin anders. Den Kopf zurückgelegt, sprintete er weiter.
    Weit konnte er allerdings nicht mehr laufen. Nach kurzer Zeit erreichte er die Felskante und blieb stehen. Grant fiel in Schritttempo und ging auf ihn zu. Muir drehte sich um. Hätte er seine Pistole auch nur einen Zentimeter gehoben, dann hätte Grant ihn auf der Stelle erschossen. Stattdessen streckte Muir den Arm zur Seite aus und ließ die Waffe über die Felskante fallen. Die beiden Männer standen einen Moment lang da, Auge in Auge, und atmeten schwer.
    «Ist es okay, wenn ich rauche?»
    Grant nickte.
    Muir griff in sein Jackett, zog langsam das elfenbeinerne Zigarettenetui heraus und klappte es auf. Nachdem er die Zigarette angezündet hatte, warf er das Streichholz in den Fluss. Die Strömung erfasste es und trieb es auf den Wasserfall zu. Muir sah ihm nach. «Sie haben sich für die falsche Seite entschieden», sagte er ohne Bitterkeit. «Sie werden sehen. Die Amis werden alles verderben.»
    «Ich habe mich für gar keine Seite entschieden. Sie haben sich für mich entschieden.»
    Muir zog tief an seiner Zigarette. Der Rauch schien ihn zu stärken: Er richtete sich auf, hob das Kinn. «Ich gehe davon aus, dass man mich hängen wird, wenn wir zurückkommen.»
    Grant zuckte die Schultern. «Wir sind nicht mehr im Krieg – jedenfalls nicht offiziell.»
    «Es wäre besser, dann könnten Sie mich erschießen. So würde ich wenigstens mit einer verdammten Zigarette im Mund sterben …»
    «Du rotes Verräterarschloch, du Hurensohn.»
    Grant nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Einen Sekundenbruchteil später stürmte jemand an ihm vorbei auf Muir zu. Der hob abwehrend die Fäuste, doch es war nur eine kraftlose Geste. Jackson stürzte sich aus vollem Lauf geradewegs auf Muir. Einen Moment lang rangen die beiden Männer am Rand der Klippe miteinander, dann stürzten sie, noch immer aneinandergeklammert, in die Tiefe.
    Grant lief zur Felskante und blickte nach unten. Er sah gerade noch die Fontäne aufstieben – dann nichts mehr. Das schwarze Wasser schloss sich über ihnen. Ein paar Minuten später sah er ihre Leichen an die Oberfläche treiben, nahe der Stelle, wo sich der See in den Fluss ergoss. Sie blieben kurz an der Kante hängen, und gleich darauf waren sie verschwunden.
    Grant wandte sich ab. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen etwas. Es schlitterte über den feuchten Felsboden und blieb auf einem Flecken Moos liegen. Muirs Zigarettenetui. Das mattweiße Elfenbein starrte ihm aus dem schwarzen Moos entgegen wie ein Augapfel, weiß wie der Tod.

DREIUNDDREISSG
    Oxford, Trinity Term 1947
    «Homer hatte nie die Intention, dass der Schild des Achill im wörtlichen Sinne als realer Gegenstand aufgefasst werden sollte. Der Schild, wie er in der Ilias beschrieben wird, stellt gleichsam eine Metapher für die Welt dar – eine flache Scheibe, von einem Gott erschaffen, begrenzt vom Okeanosstrom, der sämtliche Sterne, Sonne und Mond umschließt; Krieg und Frieden; Handel und Ackerbau; Arbeit und Vergnügen; Götter, Menschen und Tiere.»
    Der Student schaute unsicher auf. Er hatte diese Passage etwas ausgeschmückt in einem leicht verzweifelten Versuch, Zeit zu schinden. Bisher schien sein Professor es nicht bemerkt zu haben. Es kam dem Studenten nicht in den Sinn, dass dem Professor genau wie ihm selbst daran gelegen sein könnte, die Tutoriumszeit möglichst schmerzlos herumzubringen.
    «Aber in Wirklichkeit ist dieses strahlende Artefakt aus Worten geschmiedet, nicht aus Metall. Offenbar erwartet der Dichter von seinen Lesern für diese Ekphrasis ein gewisses Aussetzen des
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