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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort
Autoren: Fred Vargas
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Danglard. Da trägt dieser Mensch zehn oder zwanzig Jahre lang seine Trophäen zusammen, und das ist eine teuflisch schwierige Arbeit. Gewissenhaft lagert er sie in einer Gefriertruhe. Bemerkt Stock dazu was?«
    »Ja. Es wurde mehrmals eingefroren und wieder aufgetaut.«
    »Also holte der Fußabschneider sie von Zeit zu Zeit heraus, um sie sich anzusehen oder weiß Gott, was sonst. Vielleicht, um sie woanders hinzubringen.«
    Adamsberg lehnte sich zurück, und Danglard warf einen Blick an die Wagendecke. Noch ein paar Minuten, und sie wären raus aus der Brühe.
    »Und eines Abends«, hob Adamsberg wieder an, »trotz all der Mühe, die ihm dieses Sammeln bereitet hat, gibt der Fußabschneider seinen kostbaren Besitz auf. Einfach so, stellt ihn auf die Straße. Lässt alles stehen und liegen, als wenn er kein Interesse mehr daran hätte. Oder – und das wäre noch viel beunruhigender – als ob ihm das nicht mehr genügte. Genau wie die Sammler, die ihre Beute abstoßen, um sich in ein neues Unterfangen zu stürzen, durch das sie ihre Sammelleidenschaft auf ein höheres und noch vollkommeneres Niveau heben werden. Der Fußabschneider geht zu etwas anderem über. Etwas Besserem.«
    »Also Schlimmerem.«
    »Ja. Er schreitet tiefer in seinen Tunnel hinein. Stock hat allen Grund, sich Sorgen zu machen. Wenn es ihm gelingt, die Spur zurückzuverfolgen, wird er noch in erstaunliche Bereiche eindringen.«
    »Und wohin wird ihn das führen?«, fragte Estalère, indem er die Wirkung des Champagners auf Danglard beobachtete.
    »Bis zu dem unfassbaren, grauenvollen, alles verschlingenden Ereignis, das die ganze Geschichte ausgelöst hat und am Ende in Verirrungen mündet, die in Schuhen oder Schränken hausen. Dahinter öffnet sich der schwarze Tunnel mit seinen Stufen und seinen Gängen. Und in den wird Stock hinabsteigen müssen.«
    Adamsberg schloss die Augen und schien ohne erkennbare Überleitung in einen Zustand von Schlaf oder Flucht zu sinken.
    »Man kann aber nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Fußabschneider den Kurs ändert«, beeilte sich Danglard zu entgegnen, bevor Adamsberg sich ihm gänzlich entziehen würde. »Noch dass er sich seiner Sammlung entledigt. Alles, was man weiß, ist, dass er sie vor Highgate hingestellt hat. Und, verdammt, das ist nicht wenig. Man könnte auch sagen, er habe ein Opfer dargebracht.«
    Der Zug fuhr schnaufend ins Freie, und Danglards Stirn glättete sich. Sein Lächeln machte Estalère Mut.
    »Commandant«, murmelte er, »was ist eigentlich in Highgate passiert?«
    Wie so oft und ohne es je gewollt zu haben, legte Estalère den Finger auf die entscheidende Stelle.

5
     
    »Ich weiß nicht, ob es so gut ist, die Geschichte von Highgate zu erzählen«, meinte Danglard, der ein drittes Glas Champagner für den Brigadier bestellt hatte und es an seiner Stelle trank. »Vielleicht ist es besser, nicht mehr darüber zu reden. Es ist einer von diesen großen Tunneln, die Menschen bohren, nicht wahr, Kommissar, und ein sehr alter, lange vergessener. Vielleicht ist es besser, man lässt ihn in sich zusammenstürzen. Denn das Problem, wenn so ein Irrer einen Tunnel öffnet, ist, dass andere Leute ihn hinterher für sich benutzen können, wie Radstock es ausgedrückt hat. Genau das ist mit Highgate geschehen.«
    Mit dem entspannten Ausdruck eines Menschen, der eine unterhaltsame Geschichte hören wird, wartete Estalère auf die Fortsetzung. Danglard betrachtete sein heiteres Gesicht und war unsicher, was er tun sollte. Estalère in den Tunnel von Highgate mitzunehmen hieß, das Risiko einzugehen, dass man seine Arglosigkeit gefährdete. In der Brigade war es üblich, von Estalères »Arglosigkeit« zu reden statt von seiner Dummheit. In vier von fünf Fällen lag Estalère nämlich voll daneben. Aber seine Naivität brachte mitunter auch die unerwarteten Segnungen der Unschuld hervor. Es kam vor, dass die Böcke, die er schoss, auf Spuren führten, so simpel und naheliegend, dass keiner darauf gekommen war. In den meisten Fällen aber waren Estalères Fragen Bremsklötze. Man bemühte sich, geduldig darauf zu antworten, einerseits weil man ihn mochte, andererseits weil Adamsberg meinte, eines Tages würde der Knoten bei ihm platzen.
    Man versuchte daran zu glauben, und an dieses kollektive Bemühen hatte man sich gewöhnt. Danglard unterhielt sich in Wahrheit gern mit Estalère, wenn er Zeit hatte. Denn dabei konnte er einen Haufen Kenntnisse abspulen, ohne dass der junge Mann
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