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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort
Autoren: Fred Vargas
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das Fell oder die Exkremente des Bären als Ersatz für den Verblichenen haben wollte.«
    »Alles hängt von der Vorstellung ab, die man sich macht«, wiederholte Adamsberg. »Was war die Vorstellung des Neffen? Dass die Seele des Onkels sich im Bären verbreitet hatte bis in seine Fellspitzen hinein? Was für eine Vorstellung verband der Thekophag mit dem Schrank? Und der Fußabschneider? Welche Seele hauste für sie im Holz, in den Zehenspitzen? Was meint Stock, Danglard?«
    »Lassen Sie diese Füße, Kommissar.«
    »Sie erinnern mich an irgendetwas«, sagte Adamsberg unbestimmt. »An eine Zeichnung, oder an einen Bericht.«
    Danglard hielt die Zugbegleiterin an, die gerade mit Champagner durch den Wagen kam, nahm ein Glas für sich und eins für Adamsberg und stellte beide auf sein eigenes Bord. Adamsberg trank selten und Estalère fast nie, weil sich ihm beim Genuss von Alkohol der Kopf drehte. Man hatte ihm erklärt, dass genau dies das angestrebte Ziel sei, und dieses Prinzip hatte ihn verblüfft. Wenn Danglard trank, betrachtete er ihn heimlich mit unverhohlener Neugier.
    »Vielleicht«, hob Adamsberg wieder an, »war es auch die nebulöse Geschichte eines Mannes, der in der Nacht seine Schuhe suchte. Oder der gestorben war und zurückkehrte, um nach seinen Schuhen zu verlangen. Ob Stock sie kennt?«
    Danglard stürzte rasch das erste Glas hinunter, löste seinen Blick von der Decke und sah Adamsberg halb neidisch, halb resigniert an. Es kam vor, dass Adamsberg sich sammelte und in einen gezielten und gefährlichen Angreifer verwandelte. Das war selten, aber dann war es möglich, ihm Widerstand zu bieten. Weniger Angriffsflächen hingegen bot er, wenn seine Gedankenmaterie sich in bewegliche Blöcke teilte, was meistens der Fall war. Und überhaupt keine mehr, wenn dieser Zustand sich bis zu ihrem Auseinanderdriften steigerte wie im Augenblick, befördert vom Schaukeln des Zuges, das alle Bindungen löste. Dann schien Adamsberg sich wie ein Taucher vorwärtszubewegen, Körper und Denken schwerelos treibend und ohne Ziel. Seine Augen folgten diesem Schlingern und nahmen das Aussehen von Braunalgen an, die in seinem Gegenüber einen Eindruck von Unschärfe, von Schweben oder Nichtvorhandensein erweckten. Adamsberg in seine Extremzustände begleiten hieß in tiefes Wasser gelangen, zu den trägen Fischen, dem öligen Schlick, den wabernden Medusen, hieß undeutliche Umrisse und verschwommene Farbtöne sehen. Wenn man ihn allzu lange dahin begleitete, riskierte man, im lauen Wasser einzuschlafen und unterzugehen. In solchen besonders wässrigen Augenblicken konnte man mit ihm nicht diskutieren, ebenso wenig wie man mit der Gischt, dem Schaum, den Wolken hätte reden können. Danglard hatte eine rasende Wut auf ihn, dass er ihn schon wieder in diese Untiefe hinabzog, wo er doch gerade die zweifache Prüfung der Kanalunterquerung und der Ungewissheit über Abstract durchmachte. Es verdross ihn auch, dass er Adamsberg so oft in seine Nebel folgte.
    Er goss sein zweites Glas Champagner hinunter und rief sich schnell Radstocks Bericht in Erinnerung, um klar umrissene, genaue und beruhigende Fakten herauszufiltern. Adamsberg sah das, und er hatte keine Lust, Danglard das Entsetzen zu erklären, das diese Füße in ihm ausgelöst hatten. Der Schrankesser, die Geschichte mit dem Bären, sie waren nur bedeutungslose Ablenkungen bei dem Versuch, das Bild des Gehsteigs vor Highgate zu verdrängen, es von sich selbst und dem noch verletzlichen Gemüt von Estalère fernzuhalten.
    »Es sind siebzehn Füße«, sagte Danglard, »also acht Paar und ein einzelner Fuß. Folglich neun Personen.«
    »Personen oder Körper?«
    »Körper. Es scheint sicher, dass sie post mortem abgenommen wurden, mit einer Säge. Fünf Männer und vier Frauen, alles Erwachsene.«
    Danglard machte eine Pause, aber Adamsbergs Algenblick wartete angestrengt auf die Fortsetzung.
    »Diese Entnahmen erfolgten an den Toten mit Sicherheit vor ihrer Bestattung. Radstock vermerkt dazu: ›Im Leichenschauhaus? In den Kühlkammern der Beerdigungsinstitute?‹ Und nach der Form der Schuhe zu urteilen – was zu präzisieren bliebe –, wäre all das vor zehn oder zwanzig Jahren geschehen und hätte sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Kurz, ein Mensch, der im Laufe der Zeit mal hier, mal da ein Paar Füße abgeschnitten hat.«
    »Bis er das Sammeln leid war.«
    »Wer sagt, dass er es leid ist?«
    »Genau dieser Vorfall. Stellen Sie sich doch mal vor,
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