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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nahm die Stelle des obligatorischen schwarzen Turbans ein. Den
ungewöhnlichsten Anblick aber bot seine Nase. Ohnehin alles andere als klein, war sie nun unförmig und
fast auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen.
»Oh Allah, ein Wunder ist geschehen!«, rief Abu Dun.
»Und ich dachte schon, du wolltest bis zum Frühjahr durchschlafen.« Er sprach mit hörbar schwerer
Zunge. Der Becher Wein, den er in der verbundenen Rechten hielt, schien nicht der erste zu sein.
»Wie geht es dir?«, fragte Andrej ernst.
Der junge Sinti, der zusammen mit Abu Dun am Tisch saß, leerte seinen Weinbecher in einem einzigen
Zug und stand auf, um zu gehen.
»Bleib doch!«, bat Andrej. »Ich würde gern mit jemandem reden.«
»Das kannst du doch mit mir«, meinte Abu Dun.
»Mit jemandem, der nüchtern ist«, erklärte Andrej. »Und bei dem ich mich bedanken kann.«
»Es … es ist besser, wenn ich draußen warte«, antwortete der Zigeuner. Er hatte ein ebenso offenes
Gesicht wie Rason, aber anders als bei diesem, spürte Andrej eine gewisse Zurückhaltung - und auch
einen Hauch von Furcht. So ließ er die Hand, die er bereits ausgestreckt hatte, um ihn zurückzuhalten,
wieder sinken und trat einen Schritt zur Seite, um dem Sinti Platz zu machen.
Stirnrunzelnd blickte er ihm nach, dann ging er zum Tisch und ließ sich Abu Dun gegenüber auf einen
Stuhl sinken.
»Wie geht es dir?«, fragte er noch einmal.
Abu Dun trank einen gewaltigen Schluck Wein und griff nach dem Krug, um seinen Becher neu zu füllen,
bevor er antwortete.
»Gut! Es braucht schon etwas mehr als ein paar vorlaute Bälger, um Abu Dun umzubringen. Jedenfalls
geht’s mir nicht so schlimm, wie ich aussehe.«
Er nahm einen weiteren Schluck, und Andrej runzelte missbilligend die Stirn. Abu Dun war den Freuden
des Weines nie abgeneigt gewesen, und auch Andrej wusste einen guten Schluck dann und wann zu
schätzen. Aber jetzt war nicht der Moment dazu.
»Was übrigens nicht dein Verdienst ist«, fügte Abu Dun hinzu, nachdem er einen weiteren Becher mehr
als zur Hälfte geleert hatte. »Vielen Dank auch für deine Hilfe.«
Die Bemerkung ärgerte Andrej. »Ich bitte untertänigst um Vergebung«, antwortete er spitz. »Ich war
abgelenkt. Das ist unverzeihlich, ich weiß, aber ich war gerade mit dem Sterben beschäftigt.«
Abu Dun stürzte den Rest seines Weins hinunter, griff nach dem Krug und sah Andrej aus verschleierten
Augen an. »Wo wir gerade beim Sterben sind … wieso lebst du eigentlich noch?«
Abu Dun deutete auf Andrejs Brust. »Du hattest einen Dolch im Herzen, wenn ich mich nicht irre. Hast du
mir nicht immer erzählt, ein Stich ins Herz würde selbst dich umbringen?«
»Vielleicht hab ich ja nicht die Wahrheit gesagt«, knurrte Andrej. Gleichzeitig ermahnte er sich zur
Mäßigung. Abu Dun hatte völlig Recht. Neben offenem Feuer war ein gezielter Stich ins Herz eine von
wenigen Möglichkeiten, einen Vampyr wirklich zu töten. Und er hatte gespürt, wie der Dolch in sein Herz
eindrang und es zerschnitt. Ja, wieso lebte er eigentlich noch?
In etwas versöhnlicherem Ton sagte er: »Ich weiß es nicht.«
»Aber ich«, verkündete Abu Dun triumphierend.
»Du?«
Abu Dun genoss Andrejs Überraschung. »Man muss die Waffe stecken lassen, weißt du? Nicht
herumdrehen oder besonders tief hineinstoßen oder sonst irgendwas, einfach nur stecken lassen.
Der Stahl verhindert, dass sich die Wunde schließt, und das Blut fließt aus deinem Herzen heraus.
Schneller, als deine Zauberkräfte es ersetzen können. Es dauert eine Weile, aber am Ende verblutest du.
Wie ein ganz normaler Mensch.«
»Woher weißt du das?«, fragte Andrej.
Abu Dun grinste breit, schenkte sich nach und nahm einen tiefen Zug. Er schwieg. Andrej starrte ihn
zornig und verwirrt zugleich an. Er kannte Abu Dun gut genug, um zu wissen, dass der Nubier seine Rolle
viel zu sehr genoss, um mit etwas anderem als rätselhaften Andeutungen rauszurücken.
Nachdenklich griff er nach dem Becher, den der junge Sinti stehen gelassen hatte, roch daran und
schenkte sich schließlich ebenfalls aus dem Krug ein, den er Abu Dun fast mit Gewalt entreißen musste.
Der Wein hatte einen vollen, exotischen Geschmack, und er war so schwer, dass Andrej Abu Duns
schleppende Sprechweise sofort verstand. Ihm selbst hätte wahrscheinlich ein einziger Becher gereicht,
um seine Sinne zu betäuben. So nippte er nur kurz an dem Getränk und nutzte die Zeit, um sich
aufmerksam umzusehen.
Die beiden Kerzen erfüllten das
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