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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes
Autoren: Oswald Spengler
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organischer Teil mit der Entstehung des Buddhismus abgeschlossen war, noch viel weniger als von der antiken, sicherlich an großen Ereignissen reichen Geschichte zwischen dem 12. und 8. Jahrhundert. Beide sind lediglich in traumhaft-mythischer Gestalt festgehalten worden. Erst ein volles Jahrtausend nach Buddha, um 500 n. Chr., entstand auf Ceylon im »Mahavansa« etwas, das entfernt an Geschichtsschreibung erinnert.
    Das Weltbewußtsein des indischen Menschen war so geschichtslos angelegt, daß er nicht einmal die Erscheinung des von einem Autor verfaßten Buches als zeitlich feststehendes Ereignis kannte. Statt einer organischen Reihe persönlich abgegrenzter Schriften entstand allmählich eine vage Textmasse, in die jeder hineinschrieb, was er wollte, ohne daß die Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle gespielt hätten. In dieser anonymen Gestalt – es ist die der gesamten indischen Geschichte – liegt uns die indische Philosophie vor. Mit ihr vergleiche man die durch Bücher und Personen physiognomisch aufs schärfste herausgearbeitete Philosophiegeschichte des Abendlandes.
    Der indische Mensch vergaß alles, der ägyptische konnte
nichts
vergessen. Eine indische Kunst des Porträts – der Biographie
in nuce
– hat es nie gegeben; die ägyptische Plastik kannte kaum ein anderes Thema.
    Die ägyptische Seele, eminent historisch veranlagt und mit urweltlicher Leidenschaft nach dem Unendlichen drängend, empfand die Vergangenheit und Zukunft als ihre
ganze
Welt, und die Gegenwart, die mit dem wachen Bewußtsein identisch ist, erschien ihr lediglich als die schmale Grenze zwischen zwei unermeßlichen Fernen. Die ägyptische Kultur ist eine
Inkarnation der Sorge
– dem seelischen Gegenwert der Ferne –, der Sorge um das Künftige, wie sie sich in der Wahl von Granit und Basalt als künstlerischem Material, [Demgegenüber ist es ein Symbol ersten Ranges und ohne Beispiel in der Kunstgeschichte, daß die Hellenen ihrer mykenischen Vorzeit gegenüber, und zwar in einem an Steinmaterial überreichen Lande, vom Steinbau zur Verwendung des Holzes
zurückkehrten
, woraus sich das Fehlen architektonischer Reste zwischen 1200 und 600 erklärt. Die ägyptische Pflanzensäule war von Anfang an Steinsäule, die dorische Säule war eine Holzsäule. Darin spricht sich die tiefe Feindseligkeit der antiken Seele gegen die Dauer aus.] in den gemeißelten Urkunden, in der Ausbildung eines peinlichen Verwaltungssystems und dem Netz von Bewässerungsanlagen ausspricht, [ Hat je eine hellenische Stadt auch nur ein umfassendes Werk ausgeführt, das die Sorge um kommende Generationen verrät? Die Straßen- und Bewässerungssysteme, die man in mykenischer, d. h. vorantiker Zeit nachgewiesen hat, sind seit der Geburt antiker Völker – mit dem Anbruch der homerischen Zeit also – verfallen und vergessen worden. Um das Bizarre der Tatsache zu begreifen, daß die Buchstabenschrift von der Antike erst nach 900 angenommen wurde, und zwar in bescheidenstem Umfang und sicherlich nur zu den dringendsten wirtschaftlichen Zwecken, was der Mangel an Inschriftfunden mit Sicherheit beweist, bedenke man, daß in der ägyptischen, babylonischen, mexikanischen und chinesischen Kultur die Ausbildung einer Schrift in grauer Vorzeit beginnt, daß die Germanen sich ein Runenalphabet schufen und später ihre Ehrfurcht vor der Schrift durch die immer wiederholte ornamentale Ausbildung von Zierschriften bezeugten, während die Frühantike die vielen im Süden und Osten gebräuchlichen Schriften durchaus ignorierte. Wir besitzen zahlreiche Schriftdenkmäler aus dem hethitischen Kleinasien und aus Kreta, aus homerischer Zeit nicht ein einziges, vgl. Bd. II, S. 737 ff.]
und der notwendig damit verknüpften
Sorge um das Vergangene. Die ägyptische Mumie ist ein Symbol vom höchsten Range. Man
verewigte
den Leib des Toten, wie man seiner Persönlichkeit, dem »Ka«, durch die oft in vielen Exemplaren ausgeführten Bildnisstatuen, an deren in einem sehr hohen Sinne aufgefaßte Ähnlichkeit sie gebunden war, ewige Dauer verlieh.
    Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen dem Verhalten gegen die historische Vergangenheit und der Auffassung des Todes, wie sie sich in der
Form der Bestattung
ausspricht. Der Ägypter
verneint
die Vergänglichkeit, der antike Mensch
bejaht
sie durch die gesamte Formensprache seiner Kultur. Die Ägypter konservierten auch die Mumie ihrer Geschichte: die
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