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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes
Autoren: Oswald Spengler
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hellenistischer Zeit ein Teil verloren gegangen. Dagegen sammelte bereits Petrarca Altertümer, Münzen, Manuskripte mit einer nur dieser Kultur eigenen Pietät und Innerlichkeit der Betrachtung als historisch fühlender, auf entlegene Welten zurückschauender, nach dem Fernen sich sehnender Mensch – er war auch der erste, der die Besteigung eines Alpengipfels unternahm –, der im Grunde ein Fremder in seiner Zeit blieb. Die Seele des Sammlers versteht man nur aus seinem Verhältnis zur Zeit. Noch leidenschaftlicher vielleicht, aber von einer andern Färbung ist der chinesische Hang zum Sammeln. Wer in China reist, will »alten Spuren«,
ku-tsi
, folgen, und nur aus einem tiefen historischen Gefühl ist der unübersetzbare Grundbegriff chinesischen Wesens,
tao
, zu deuten. [Vgl. Bd. II, S. 910f.] Was dagegen in hellenistischer Zeit allenthalben gesammelt und gezeigt wurde, waren Merkwürdigkeiten von mythologischem Reiz, wie sie Pausanias beschreibt, bei denen das streng historische Wann und Warum überhaupt nicht in Betracht kam, während die ägyptische Landschaft sich schon zur Zeit des großen Thutmosis in ein einziges ungeheures Museum von strenger Tradition verwandelt hatte.
    Unter den Völkern des Abendlandes waren es die Deutschen, welche die mechanischen
Uhren
erfanden, schauerliche Symbole der rinnenden Zeit, deren Tag und Nacht von zahllosen Türmen über Westeuropa hin hallende Schläge vielleicht der ungeheuerste Ausdruck sind, dessen ein historisches Weltgefühl überhaupt fähig ist. [Abt Gerbert (als Papst Sylvester II.), der Freund Kaiser Ottos III., hat um 1000, also mit dem Beginn des romanischen Stils und der Kreuzzugsbewegung, den ersten Symptomen einer neuen Seele, die Konstruktion der Schlag- und Räderuhren erfunden. In Deutschland entstanden auch um 1200 die ersten Turmuhren und etwas später die Taschenuhren. Man bemerke die bedeutsame Verbindung der Zeitmessung mit dem Gebäude des religiösen Kultus.] Nichts davon begegnet uns in den
zeitlosen
antiken Landschaften und Städten. Bis auf Perikles herab hat man die Tageszeit nur an der Schattenlänge abgeschätzt und erst seit Aristoteles erhält ᾣρα die – babylonische – Bedeutung »Stunde«. Vorher gab es überhaupt keine exakte Einteilung des Tages. In Babylon und Ägypten waren die Wasser- und Sonnenuhren in frühester Zeit erfunden worden, aber erst Plato führte eine als Uhr wirklich verwendbare Form der Klepsydra in Athen ein, und noch später übernahm man die Sonnenuhren, lediglich als unwesentliches Gerät des Alltags, ohne daß sie das antike
Lebensgefühl
im geringsten verändert hätten.
    Hier ist noch der entsprechende, sehr tiefe und nie hinreichend gewürdigte Unterschied zwischen antiker und abendländischer Mathematik zu erwähnen. Das antike Zahlendenken faßt die Dinge auf,
wie sie sind
, als
Größen
, zeitlos, rein gegenwärtig. Das führte zur euklidischen Geometrie, zur mathematischen Statik und zum Abschluß des geistigen Systems durch die Lehre von den Kegelschnitten. Wir fassen die Dinge auf, wie sie
werden
und
sich verhalten
, als
Funktionen
. Das führte zur Dynamik, zur analytischen Geometrie und von ihr zur Differentialrechnung. [Bei Newton heißt sie bezeichnenderweise Fluxionsrechnung – mit Rücksicht auf gewisse metaphysische Vorstellungen vom Wesen der Zeit. In der griechischen Mathematik kommt die Zeit gar nicht vor.] Die moderne Funktionentheorie ist die riesenhafte Ordnung dieser ganzen Gedankenmasse. Es ist eine bizarre, aber seelisch streng begründete Tatsache, daß die griechische Physik – als Statik im Gegensatz zur Dynamik – den Gebrauch der Uhr nicht kennt und nicht vermissen läßt und, während wir mit Tausendsteln von Sekunden rechnen, von Zeitmessungen vollständig absieht. Die Entelechie des Aristoteles ist der einzige zeitlose – ahistorische – Entwicklungsbegriff, den es gibt.
    Damit ist unsere Aufgabe festgelegt. Wir Menschen der westeuropäischen Kultur sind mit unserem historischen Sinn eine Ausnahme und nicht die Regel, »Weltgeschichte« ist
unser
Weltbild, nicht das »der Menschheit«. Für den indischen und den antiken Menschen gab es kein Bild der werdenden Welt und vielleicht wird es, wenn die Zivilisation des Abendlandes einmal erloschen ist, nie wieder eine Kultur und also einen menschlichen Typus geben, für den »Weltgeschichte« eine so mächtige Form des Wachseins ist.
6
    Ja – was ist Weltgeschichte? Eine geordnete Vorstellung des Vergangenen, ein inneres
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