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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes
Autoren: Oswald Spengler
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chronologischen Daten und Zahlen. Während von der vorsolonischen Geschichte der Griechen nichts überliefert ist, keine Jahreszahl, kein echter Name, kein greifbares Ereignis – was dem uns allein bekannten Rest ein übertriebenes Gewicht gibt –, kennen wir aus dem 3. Jahrtausend und noch weiter zurück die Namen und selbst die genauen Regierungszahlen zahlreicher ägyptischer Könige, und im Neuen Reich muß man ein lückenloses Wissen von ihnen gehabt haben. Als ein grauenvolles Symbol dieses Willens zur Dauer liegen heute noch die Körper der großen Pharaonen mit kenntlichen Gesichtszügen in unseren Museen. Auf der leuchtend polierten Granitspitze der Pyramide Amenemhets III. liest man noch jetzt die Worte: »Amenemhet schaut die Schönheit der Sonne« und auf der andern Seite: »Höher ist die Seele Amenemhets als die Höhe des Orion und sie verbindet sich mit der Unterwelt«. Das ist Überwindung der Vergänglichkeit, der bloßen Gegenwart, und unantik im höchsten Maße.
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    Gegenüber dieser mächtigen Gruppe ägyptischer Lebenssymbole erscheint an der Schwelle der antiken Kultur, der Vergessenheit entsprechend, die sie über jedes Stück ihrer äußern und innern Vergangenheit breitet, die
Verbrennung der Toten
. Der mykenischen Zeit war die sakrale Heraushebung dieser Bestattungsform aus den übrigen, die von primitiven Völkern der Steinzeit nebeneinander ausgeübt wurden, durchaus fremd. Die Königsgräber sprechen sogar für den Vorrang der Erdbestattung. Aber in homerischer Zeit so gut wie in vedischer erfolgt der plötzliche, nur seelisch zu begründende Schritt vom Begräbnis zur Verbrennung, die, wie die Ilias zeigt, mit dem vollen Pathos eines sinnbildlichen Aktes – der feierlichen Vernichtung, der Verneinung aller historischen Dauer – vollzogen wurde.
    Von diesem Augenblick an ist auch die Plastizität der seelischen Entwicklung des Einzelnen zu Ende. Sowenig das antike Drama echt historische Motive gestattet, so wenig läßt es das Thema der innern Entwicklung zu, und man weiß, wie entschieden sich der hellenische Instinkt gegen das Porträt in der bildenden Kunst aufgelehnt hat. Bis in die Kaiserzeit kennt die antike Kunst nur einen ihr gewissermaßen natürlichen Stoff: den Mythos. [Von Homer bis zu den Tragödien Senecas, ein volles Jahrtausend hindurch, erscheinen die mythischen Gestalten wie Thyest, Klytämnestra, Herakles trotz ihrer begrenzten Zahl unverändert immer wieder, während in der Dichtung des Abendlandes der faustische Mensch zuerst als Parzival und Tristan, dann im Sinne der Epoche verwandelt als Hamlet, als Don Quijote, als Don Juan, in einer letzten zeitgemäßen Verwandlung als Faust und Werther und dann als Held des modernen weltstädtischen Romans, immer aber in der Atmosphäre und Bedingtheit eines bestimmten Jahrhunderts auftritt.] Auch die idealen Bildnisse der hellenistischen Plastik sind mythisch, so gut es die typischen Biographien von der Art Plutarchs sind. Kein großer Grieche hat je Erinnerungen niedergeschrieben, die eine überwundene Epoche vor seinem geistigen Auge fixiert hätten. Nicht einmal Sokrates hat über sein Innenleben etwas in unserem Sinne Bedeutendes gesagt. Es fragt sich, ob in einer antiken Seele dergleichen überhaupt möglich war, wie es die Entstehung des Parzival, Hamlet, Werther doch als natürlichen Trieb voraussetzt. Wir vermissen bei Plato jedes Bewußtsein einer Entwicklung seiner Lehre. Seine einzelnen Schriften sind lediglich Fassungen sehr verschiedener Standpunkte, die er zu verschiedenen Zeiten einnahm. Ihr genetischer Zusammenhang war kein Gegenstand seines Nachdenkens. Aber schon am Anfang der abendländischen Geistesgeschichte steht ein Stück tiefster Selbsterforschung, Dantes »Vita Nuova«. Allein daraus folgt, wie wenig Antikes, d. h. rein Gegenwärtiges Goethe in sich hatte, der nichts vergaß, dessen Werke seinen eigenen Worten nach nur Bruchstücke
einer
großen Konfession waren.
    Nach der Zerstörung Athens durch die Perser warf man alle Werke der älteren Kunst in den Schutt – aus dem wir sie heute wieder hervorziehen – und man hat nie gehört, daß jemand in Hellas sich um die Ruinen von Mykene oder Phaistos zum Zwecke der Ermittlung geschichtlicher Tatsachen gekümmert hätte. Man las seinen Homer, aber man dachte nicht daran, wie Schliemann den Hügel von Troja aufzugraben. Man wollte den Mythos, nicht die Geschichte. Von den Werken des Aischylos und der vorsokratischen Philosophen war schon in
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