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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes
Autoren: Oswald Spengler
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Schicksals

die Logik der Zeit
– eine Tatsache von tiefster innerer Gewißheit ist, eine Tatsache, welche das gesamte mythologische, religiöse und künstlerische Denken ausfüllt, die das Wesen und den Kern aller Geschichte im Gegensatz zur Natur ausmacht, die aber den Erkenntnisformen, welche die »Kritik der reinen Vernunft« untersucht, unzugänglich ist, das ist noch nicht in den Bereich theoretischer Formulierung gedrungen. Die Philosophie ist, wie Galilei an einer berühmten Stelle seines »Saggiatore« sagt, im großen Buche der Natur »
scritta in lingua matematica
«. Aber wir warten heute noch auf die Antwort eines Philosophen, in welcher Sprache die Geschichte geschrieben und wie diese zu lesen ist.
    Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes.
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    Natur ist die Gestalt, unter welcher der Mensch hoher Kulturen den unmittelbaren Eindrücken seiner Sinne Einheit und Bedeutung gibt. Geschichte ist diejenige, aus welcher seine Einbildungskraft das lebendige Dasein der Welt in bezug auf das eigene Leben zu begreifen und diesem damit eine vertiefte Wirklichkeit zu verleihen sucht. Ob er dieser Gestaltungen fähig ist und welche von ihnen sein waches Bewußtsein beherrscht, das ist eine Urfrage aller menschlichen Existenz.
    Hier liegen zwei
Möglichkeiten
der Weltbildung durch den Menschen vor. Damit ist schon gesagt, daß es nicht notwendig
Wirklichkeiten
sind. Fragen wir also im folgenden nach dem Sinn aller Geschichte, so ist zuerst eine Frage zu lösen, die bisher nie gestellt worden ist.
Für wen
gibt es Geschichte? Eine paradoxe Frage, wie es scheint. Ohne Zweifel für jeden, insofern jeder Mensch mit seinem gesamten Dasein und Wachsein Glied der Geschichte ist. Aber es ist ein großer Unterschied, ob jemand unter dem beständigen Eindruck lebt, daß sein Leben ein Element in einem weit größeren Lebenslauf ist, der sich über Jahrhunderte oder Jahrtausende erstreckt, oder ob er es als etwas in sich selbst Gerundetes und Abgeschlossenes empfindet. Sicherlich gibt es für die letztere Art des Wachseins keine Weltgeschichte,
keine Welt als Geschichte
. Aber wie, wenn das Selbstbewußtsein einer ganzen Nation, wenn eine
ganze Kultur
auf diesem ahistorischen Geiste beruht? Wie muß ihr die Wirklichkeit erscheinen? Die Welt? Das Leben? Bedenken wir, daß sich im Weltbewußtsein der Hellenen alles Erlebte, nicht nur die eigne persönliche, sondern die allgemeine Vergangenheit alsbald in einen zeitlos unbeweglichen, mythisch gestalteten Hintergrund der jeweils augenblicklichen Gegenwart verwandelte, dergestalt, daß die Geschichte Alexanders des Großen noch vor seinem Tode für das antike Gefühl mit der Dionysoslegende zu verschwimmen begann, und Cäsar seine Abstammung von Venus mindestens nicht als widersinnig empfand, so müssen wir zugestehen, daß uns Menschen des Abendlandes mit dem starken Gefühl für zeitliche Distanzen, aus dem heraus das tägliche Rechnen mit Jahreszahlen nach und vor Christi Geburt etwas Selbstverständliches geworden ist, ein Nacherleben solcher Seelenzustände beinahe unmöglich wird, daß wir aber nicht das Recht haben, dem Problem der Geschichte gegenüber von dieser Tatsache einfach abzusehen.
    Was Tagebücher und Selbstbiographien für den einzelnen, das bedeutet Geschichtsforschung im weitesten Umfange, wo sie auch alle Arten psychologisch vergleichender Analyse fremder Völker, Zeiten, Sitten einschließt, für die Seele ganzer Kulturen. Aber die antike Kultur besaß kein
Gedächtnis
, kein historisches Organ in diesem besonderen Sinne. Das »Gedächtnis« des antiken Menschen – wobei wir allerdings einen aus dem eignen Seelenbilde abgeleiteten Begriff ohne weiteres einer fremden Seele unterlegen – ist etwas ganz anderes, weil hier Vergangenheit und Zukunft als ordnende Perspektiven im Wachsein fehlen und die »reine Gegenwart«, die Goethe an allen Äußerungen antiken Lebens, vor allem an der Plastik so oft bewundert hat, es mit einer uns ganz unbekannten Mächtigkeit ausfüllt. Diese reine Gegenwart, deren größtes Symbol die dorische Säule ist, stellt in der Tat eine
Verneinung der Zeit
(der Richtung) dar. Für Herodot und Sophokles wie für Themistokles und für einen römischen Konsul verflüchtigt sich die
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