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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes
Autoren: Oswald Spengler
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des Tages sichtbar werdenden Ereignisse geistig-politischer Art als solche hinzunehmen, nach »Ursache« und »Wirkung« zu ordnen und in ihrer scheinbaren, verstandesmäßig faßlichen Tendenz zu verfolgen. Eine derartige – »pragmatische« – Behandlung der Geschichte würde nichts als ein Stück verkappter Naturwissenschaft sein, woraus die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung kein Hehl machen, während ihre Gegner sich nur der Gleichheit des beiderseitigen Verfahrens nicht hinreichend bewußt
sind
. Es handelt sich nicht um das, was die greifbaren Tatsachen der Geschichte an und für sich, als Erscheinungen zu irgendeiner Zeit sind, sondern um das, was sie
durch ihre Erscheinung bedeuten, andeuten
. Die Historiker der Gegenwart glauben ein übriges zu tun, wenn sie religiöse, soziale und allenfalls kunsthistorische Einzelheiten heranziehen, um den politischen Sinn einer Epoche zu »illustrieren«. Aber sie vergessen das Entscheidende – entscheidend nämlich, insofern sichtbare Geschichte Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum ist. Ich habe noch keinen gefunden, der mit dem Studium der
morphologischen Verwandtschaft
, welche die Formensprache
aller
Kulturgebiete innerlich verbindet, Ernst gemacht hätte, der über den Bereich politischer Tatsachen hinaus die letzten und tiefsten Gedanken der Mathematik der Hellenen, Araber, Inder, Westeuropäer, den Sinn ihrer frühen Ornamentik, ihrer architektonischen, metaphysischen, dramatischen, lyrischen Grundformen, die Auswahl und Richtung ihrer großen Künste, die Einzelheiten ihrer künstlerischen Technik und Stoffwahl eingehend gekannt, geschweige denn in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Formprobleme des Historischen erkannt hätte. Wer weiß es, daß zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit Ludwigs XIV., zwischen der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen, zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem ein tiefer Zusammenhang der Form besteht? Selbst die nüchternsten Tatsachen der Politik nehmen, aus dieser Perspektive betrachtet, einen symbolischen und geradezu metaphysischen Charakter an, und es geschieht hier vielleicht zum ersten Male, daß Dinge wie das ägyptische Verwaltungssystem, das antike Münzwesen, die analytische Geometrie, der Scheck, der Suezkanal, der chinesische Buchdruck, das preußische Heer und die römische Straßenbautechnik
gleichmäßig
als Symbole aufgefaßt und als solche gedeutet werden.
    An diesem Punkte stellt es sich heraus, daß es eine theoretisch durchleuchtete
Kunst
der historischen Betrachtung noch gar nicht gibt. Was man so nennt, zieht seine Methoden fast ausschließlich aus dem Gebiete des Wissens, auf welchem allein Methoden der Erkenntnis zur strengen Ausbildung gelangt sind, aus der Physik. Man glaubt Geschichtsforschung zu treiben, wenn man den gegenständlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung verfolgt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Philosophie alten Stils an eine andere Möglichkeit der Beziehung zwischen dem verstehenden menschlichen Wachsein und der umgebenden Welt nie gedacht hat. Kant, der in seinem Hauptwerk die formalen Regeln der Erkenntnis feststellte, zog, ohne daß er oder irgendein anderer es je bemerkt hätte, allein die
Natur
als Objekt der Verstandestätigkeit in Betracht. Wissen ist für ihn mathematisches Wissen. Wenn er von angeborenen Formen der Anschauung und Kategorien des Verstandes spricht, so denkt er nie an das ganz anders geartete Begreifen historischer Eindrücke, und Schopenhauer, der von Kants Kategorien bezeichnenderweise allein die der Kausalität gelten läßt, redet nur mit Verachtung von der Geschichte. [Man muß es fühlen können, wie sehr die Tiefe der formalen Kombination und die Energie des Abstrahierens auf dem Gebiete etwa der Renaissanceforschung oder der Geschichte der Völkerwanderung hinter dem zurückbleibt, was für die Funktionentheorie und theoretische Optik selbstverständlich ist. Neben dem Physiker und Mathematiker wirkt der Historiker
nachlässig
, sobald er von der Sammlung und Ordnung seines Materials zur Deutung übergeht.] Daß außer der Notwendigkeit von Ursache und Wirkung – ich möchte sie die
Logik des Raumes
nennen – im Leben auch noch die organische Notwendigkeit
des
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