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Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Titel: Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
Autoren: Ilija Trojanow
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unkorrigierbaren Unzeitgemäßheit befreit hat.
    Dieser Prozess ist (fast) abgeschlossen. Der heutige Homo sacer ist daher der gefallene Konsument. Alles ist verzeihlich, nicht aber der Konsumverzicht. Dieser unterwandert das kapitalistische System in ähnlicher Drastik wie der Hungerstreik eines Häftlings das Gefängnissystem, weswegen Letzterer im Regelfall zwangsernährt werden muss. Der Konsumlose trägt ein Stigma (wie auch ein ehemaliger Häftling), besonders evident bei jenen, die von der Müllhalde leben. Weil sie nichts außer unseren Abfall konsumieren, sind sie endgültig entwertet. Der »gesunde« Bürger kauft Neuware ein, der lädierte Bürger frequentiert die Second-Hand-Läden, wer aber nur die Müllkippe als Konsumtempel kennt, der kann – das leuchtet bestimmt jedem ein – kein vollwertiger Mensch sein. Er ist ein Kollateralschaden des Konsumzwangs.
    Die Bewohner unserer Großstädte sind an jedem Tag ihres Lebens Tausenden Werbebotschaften ausgesetzt, die teilweise unbewusst wahrgenommen werden, gegen die man sich somit kaum schützen kann. Mit suggestiven Einflüsterungen und dominanten Feuerwerken wird uns eingetrichtert, dass wir etwas, von dem wir gestern nichts wussten, unbedingt benötigten, dass unser Leben ohne dieses Etwas unvollständig sei, also beheben wir sofort den Mangel und ahnen bereits, wie viele andere Lücken noch zu schließen sind. Das brauchst du, brauchst du, brauchst du, das liebst du, liebst du, liebst du. Shopping ist ein Hamsterrad, in dem sich unsere Lebenslust austoben soll. Kein Platz ohne Markt, keine Fußgängerzone ohne Stände, kein Gerüst vor prominenten Gebäuden ohne Reklametafeln, und dass die Rasenflächen in unseren Parks frei genutzt werden können, wird an manchen Orten auch schon infrage gestellt – wie neulich von privaten Sicherheitskräften in dem barocken Wiener Augarten, der seit 1775 öffentlich zugänglich ist, denn zur Aufklärung gehörte die Befreiung des öffentlichen Raums von aristokratischer Eigennutzung (als Kaiser Joseph II. daraufhin mit dem Unmut der Adligen konfrontiert war, die sich beschwerten, sie könnten nirgendwo mehr entre eux sein, erwiderte er: »Wenn ich unter meinesgleichen verkehren wollte, müsste ich den ganzen Tag durch die Kapuzinergruft spazieren.«).
    Nirgendwo ist die kommerzielle Okkupation des öffentlichen Raums so sichtbar wie auf Flughäfen. Können Sie sich noch an Terminals erinnern, deren vorrangige Aufgabe es war, den Abflug zu ermöglichen, den Transit zu erleichtern? Heute bezahlen wir unseren Reisewunsch mit einem Konsumrutenlauf. Der frei begehbare Raum ist zu einem engen Korridor geschrumpft, von den allgegenwärtigen Duty-Free-Shops in die Enge getrieben, vielerorts sogar abgeschafft worden. Die Pläne für den neuen Flughafen Berlin Schönefeld (bezahlt mit Steuergeldern von astronomischer Höhe) sehen vor, dass die Passagiere nach der Sicherheitskontrolle eine Einkaufszone durchschreiten müssen, bevor sie zu den Abfluggates gelangen. Ein anderer Zugang ist nicht vorgesehen. Alle Wege führen durch ein zollfreies Dorado. Und weil sich die Konsumtempel ausbreiten, entschwinden die Fürsorgestationen in die verwirrenden Tiefen des Unterbaus. Es dauerte vor einigen Jahren eine gute halbe Stunde, bis ich im brandneuen Terminal 5 von London Heathrow das Büro fand – so gut versteckt, dass mehrere Mitarbeiter mir keine nützliche Auskunft geben konnten –, in dem ich meine allein anreisende minderjährige Tochter abholen konnte. »Wir haben uns schon mehrfach beschwert«, sagte eine der Mitarbeiterinnen, »aber gegen die Duty-Free-Läden kommen wir nicht an.«
    Dort kauft der Selbstoptimierte – exemplarischer Typus des neuen Menschen – Deodorants und Parfüms ein, um seinen schweißtreibenden Versuch, konkurrenzfähig zu bleiben, olfaktorisch zu neutralisieren. Beim Kampf um die eigene Konsumbefähigung sollte man eine Bella figura abgeben. In Wirklichkeit sind die Selbstoptimierungsprogramme, denen sich immer mehr Menschen unterwerfen, individuelle Wiederaufbereitungsanlagen, die zum Himmel stinken.
    Können Sie noch mithalten? Sind Sie gut genug? Wenn jeder Zweite entlassen werden soll, zu welcher Hälfte werden Sie gehören? Sehen Sie sich eher als Loser oder als Winner? In dem Maß, in dem der Mensch zur Ressource wird, über welche die Arbeitsagenturen nach Belieben verfügen können, wird der Einzelne gezwungen, seinen Geist und Körper fortwährend zu optimieren. Gewohnt, vom Computer
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