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Der träumende Kameltreiber (German Edition)

Der träumende Kameltreiber (German Edition)

Titel: Der träumende Kameltreiber (German Edition)
Autoren: Amor Ben Hamida
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Würden sie es nicht tun, hätten sie nicht so viel Geld; hätten sie nicht so viel Geld, wären sie unglücklich …
    Womöglich stimmte einiges aus den unglaublichen Behauptungen dieses armen Vaters der Vergewaltigten: Was ist, wenn diese Menschen alle bei der Suche nach Glück ins Unglück gestürzt waren? Vor lauter Rennen nach Geld und Gut haben sie die grundmenschlichen Dinge verloren: Sie vergewaltigen ihre Kinder oder lassen zu, dass sie von Hunden zerfetzt werden, sie töten ihre Frauen und sich selber. Sie betrinken sich und schlagen auf Unschuldige ein, bis diese ins Koma fallen. Und dass sie in Zügen, Trams und Bussen, sogar in Autos, wenn sie im Stau stecken, lesen, das hielt ich zunächst für einen ehrgeizigen Willen zur Weiterbildung. Aber ich glaube jetzt, dass sie stets lesen müssen, damit sie nichts verpassen, damit sie ihre Aktienkurse und die Weltwirtschaftslage verstehen. Und das Verstehen basiert nicht auf freiwilliger Bereitschaft zu lernen, nein, das Wissen ist ihr tägliches Brot, nach dem sie rennen müssen. Was für eine Welt! Und was hat sie für eine Zukunft?
    Auf einmal schienen mir diese aufgetakelten, perfekt geschminkten Frauen mit makellosem Körper zu sagen:
    ,Nimm meine Hülle, der Inhalt ist nichts wert!’
    Sie verpackten sich so schön, dass man gar nicht mehr zu ihrem Inneren vordringen wollte. Unsere Hülle ist vielleicht nicht so sauber, so hygienisch rein und keimfrei wie ihre, aber unsere Seelen, so kam es mir dort und in jenem Moment vor, wären im Vergleich zu ihren engelhaft.
    Und dieser Typ mit dem makellosen, schönen Gesicht, der fast so gut aussah wie unser Freund Sliman hier, dieser Weiberheld, den ich um die vielen Frauen um ihn herum beneidete, als ich ihn in einer Bar sah, der kam mir plötzlich so jämmerlich und armselig vor, denn ich wusste, dass diese vielen Blondinen ihn nur wegen seines Geldes umschwirrten. Würde er ihnen auch nur im Spaß sagen, er hätte alles verloren, sie würden ihn auf der Stelle verlassen und sich in die Arme eines anderen werfen.
    Oder dieser alte, niedergeschlagene Mann, den ich für seine tadellosen, blitzblanken Zähne bewunderte. Unsere Leute in diesem Alter haben selten noch Zähne. Aber plötzlich fragte ich mich:
    ‚Warum schleppte er eine schwere Einkaufstasche in einer Hand und einen kleinen Hund in der anderen?’
    Die Einkaufstasche trug er, weil er keinen Verwandten mehr hatte. Seine Kinder! Wo waren seine Kinder? Wie konnten sie es zulassen, dass ein so alter, gebrechlicher Mann all das alleine nach Hause trug? Und wenn er es alleine nach Hause schleppte, dann wohnte er womöglich allein. Oder mit seiner Frau. Wo waren ihre Kinder, verflixt? Wie konnten sie es zulassen, dass ihre Eltern alles für sie gaben und dann im Alter alleine waren? Und dieser kleine Köter, das war doch der einzige Freund, den dieser Alte noch hatte. Mein Gott! Was haben die hier verkehrt gemacht, dass sie so leben müssen?
    In dieser Zelle, Freunde, kam mir eine Art Erleuchtung: Ich verlor den Respekt und die Ehrfurcht vor ihnen. Als Touristen imponierten sie mir mit ihrem Gehabe, ihrer Makellosigkeit, ihren sauberen Zähnen und ihrem Geld. Nun durfte ich in ihren grauen Alltag sehen und der sah nicht einfacher aus als unserer. Sie rannten schnaubend durch den Tag und hatten nicht einmal in der Nacht ihre Ruhe. Sie waren gefangen in einem System, das immer mehr von ihnen abverlangte. Ja, ich weiß, dass das alles auch auf uns zukommt. Und glaubt mir, wenn ihre Gegenwart unsere Zukunft ist, dann helfe uns Gott!
    Meine Welt hatte auch ihre Sorgen und Nöte. Selten wissen wir, was morgen ist, selten können wir planen, wo wir in einem Jahr stehen. Aber stets haben wir diese Sonne vor unseren Augen, morgens und abends. Ich will nicht hierher gehören. Ich will nach Hause. Ich lasse lieber diesen Reichtum und seine Probleme und nehme die Armut und ihre Würze. Je mehr ich über sie nachdachte, umso mehr verwandelte sich meine Schwärmerei in eine Abneigung.
    Und die Bilder gingen nur noch rasend durch meinen Kopf: Die ersten Tage hatte ich mehr gestaunt, als dass ich beurteilen konnte. Wisst ihr, dass sie keinen Respekt, keine Grenzen, keine Tabus mehr kennen? Sie machen Werbung für das Rauchen und Werbung für das Aufhören, sie geben Plakate aus für Wein und warnen vor dem Alkohol. Sie lassen halbnackte Frauen in ihren Zeitschriften abbilden, bestrafen aber die Belästigung von Frauen. Sie leben in einem ständigen Widerspruch. Sie gehen in
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