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Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)

Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)

Titel: Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Autoren: Barbara Krohn
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dachte sie wieder, was heißt hier Boot, ein Schiff, Segelschiff, eine Yacht mit Motor und Kajüte und allem drum und dran, ich würde mir Anna schnappen und das Weite suchen…
    Das Boot war ein Schiff, war die Caremar auf dem Weg nach Capri, Ischia, Procida. An Deck der Fähre, sie konnte ihn genau erkennen, stand ein junger Mann in dunkelblauer Hose und dunkelblauem T-Shirt mit der roten Caremar-Aufschrift auf der Brust. Sie winkte. Es war Massimo, ihr ältester Sohn. Hinter seinem Rücken tauchten auch Paolo und Giuseppe auf. Was taten sie dort? Vielleicht hatte Massimo sie alle zu einer Kreuzfahrt eingeladen? Natürlich, der Berg mit der Kuppe aus Schnee oder Puderzucker im Hintergrund war der Vesuv, das Schiff kreuzte durch den Golf von Neapel. Doch warum hatten diese Schlawiner Anna nicht mitgenommen, die vergötterte kleine Schwester? Die Tabakfrau drohte ihnen im Geiste mit dem Zeigefinger, die Söhne lachten und machten obszöne Gesten. Das ging aber zu weit! Die eigenen Söhne, wo gab es denn so was! Sie wollte schimpfen, mußte stattdessen aber lachen, und je länger sie lachte, desto leichter wurde sie, bis sie sanft abhob von der Erde und dem Schiff entgegenflog, ein Paradiesvogel, arrivederci , geliebte Kinder…
    »… einen Espresso?« sagte eine sanfte Stimme.
    Die Tabakfrau zuckte zusammen. »Wie bitte?«
    »Möchten Sie auch einen Espresso?«
    »Ja, bitte.« Die Tabakfrau war so benommen, als sei sie soeben aus dem Tief schlaf erwacht. Während sie versuchte, ihren Tagtraum einzufangen, verschwand Livia in der Küche.
    »Sie haben sich richtig entspannt«, sagte sie, als sie mit dem Tablett und einer breiten Stola wiederkam, die sie der Tabakfrau über die Schultern legte. »Die meisten Leute versuchen, Haltung zu bewahren, sich zu kontrollieren – oder zumindest das Bild, das sie von sich abgeben wollen. Aber irgendwann ist die Ruhe stärker. Das ist der Moment, in dem ich wirklich zu malen beginne. Bei Ihnen hat es höchstens fünf Minuten gedauert, Kompliment. Nehmen Sie Zucker?«
    Die Tabakfrau hob lachend die Hände. »Um Himmels willen, nein.« Sie zog die Stola über der Brust zusammen, nippte am Espresso, zeigte auf die Bilder an den Wänden. »Alles von Ihnen?«
    »Bis auf zwei«, sagte Livia nicht ohne Stolz.
    »Malen Sie schon lange? Wie sind Sie zur Malerei gekommen?« fragte die Tabakfrau. »Oder die Malerei zu Ihnen?«
    »Ich habe an der Accademia di Belle Arti studiert«, wollte Livia sagen, hielt aber inne. Wenn die Tabakfrau es über sich gebracht hatte, sich auszuziehen, konnte auch sie, die Malerin, ein Stück mehr von sich zeigen als die offizielle Visage. Also erzählte sie von dem Tag im Frühling: Sie war zwölf und hatte gemeinsam mit den Spielgefährten diese Frau entdeckt: zwischen Schutt und Unkraut hinter einer Steinmauer, der Rock zerrissen, die Beine angewinkelt, die Arme weit von sich gestreckt, Schmutz im Gesicht, ein blauer Fleck unter dem linken Auge, sie wollte nicht weiter ins Detail gehen, jeder konnte sieh ein Bild machen. Zum Glück war die Frau nicht tot – das aufgeregte Geschrei der Kinder rief sie ins Leben zurück. »Wir dachten, die Sonne hätte sie aufgetaut«, sagte Livia,
    Das Bild ließ sie nicht mehr los, bis heute war es ihr im Gedächtnis, im Hintergrund, zuweilen verstellt von anderen Bildern, doch immer abrufbereit, präsent. Jeden Tag war sie damals zu der Stelle gelaufen, wo die Frau gelegen hatte, als hätte sie einen Abdruck hinterlassen. »Zu Hause habe ich sie dann gemalt«, fuhr sie fort, »mit Bleistift, Wachsstiften, sogar mit Tusche, Nacht für Nacht, im Bett, im Licht der Taschenlampe. Immer wieder. Wie sie am Boden lag, wie sie wieder aufstand, müde, beinahe automatisch, wie ein Boxer im Ring, der nur noch taumeln kann und ohne Widerstand dem nächsten Kinnhaken entgegenläuft.« Livia stand auf, reckte sich. »Dann hatte ich es irgendwann satt, diese Opfermalerei. Meine nächsten Frauen wurden stark und kampflustig, bekamen geballte Fäuste, hatten Messer in der Hand, sogar Pistolen.« Sie mußte lachen. »Ein wenig sahen sie aus wie diese realsozialistischen Heidinnen, muskulös, optimistisch, Kopf hoch, wir schaffen es! Ich wollte, daß die Frauen nicht mehr geschlagen werden, sondern im Zweifelsfall lieber selbst Zurückschlagen. Frommer Wunsch. Macht und Ohnmacht hocken fest auf ihren Plätzen. Selten, daß mal jemand ausbricht.« So wie Sie, wollte sie sagen, schwieg dann aber. »Zwischen Opfern und Heldinnen habe ich dann
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