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Der Tigermann

Der Tigermann

Titel: Der Tigermann
Autoren: Lecale ERrol
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auf.
    »Aber meine Tochter, du fürchtest dich doch nicht? Du fürchtest dich doch nicht, wenn Kali dich zum ewigen Schlaf ruft? Zur ewigen Freiheit deines Ichs!«
    Der Sinn der Worte drang nicht in ihr Bewußtsein. Aber seine Stimme war hypnotisierend, er legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Dem Mädchen schien es, als glühten diese Augen, als weiteten sie sich und zogen sich rhythmisch zusammen. Sie unterwarfen sie.
    »Du wirst wenigstens einen Schluck auf das Gedenken des teuren Verstorbenen trinken«, bestimmte der Priester.
    Er schnippte mit den Fingern. Man brachte ihm einen silbernen Kelch, der mit glitzernden Edelsteinen ausgelegt war. Der Zitronensaft darin war mit Opium und anderen schweren Drogen angereichert. Kaum hatte das junge Ding daraus getrunken, wurden ihre Augen glasig. Sie ließ den Kelch fallen.
    »Nehmt sie jetzt«, befahl Saiva brüsk. Ohne sich dagegen zu wehren, ließ das Mädchen sich auf den Scheiterhaufen neben die Leiche legen. Saiva bückte sich und hob den Kelch auf. Eine würdige Familie, die sich einen so kostbaren Abschiedsbecher leisten konnte. Er steckte ihn in seinen weiten Ärmel.
    Das Mädchen begann leise zu schnarchen. Saiva winkte seinem Helfer zu.
    Die Flammen stiegen auf.
    Saiva blickte bedauernd auf das junge Ding. Früher wurden jene, die sich weigerten, gefesselt und auf den Scheiterhaufen gebunden. Es gab keine betäubenden Drogen für sie. Ihre Schmerzensschreie waren Musik in den Ohren Kalis.
    ,Der Maharadscha würde für seine Eigenmächtigkeit büßen müssen! Der Gedanke daran ließ sein Herz schneller schlagen, als er das Mantra für die Verstorbenen herunterleierte.
     
    Eli beugte sich über den kleinen Körper und spürte die Aura des Grauens, die immer noch in der armseligen Hütte hing. Mara neben ihm zitterte unkontrolliert. Ihr Gesicht war wächsern, und selbst ihre vollen Lippen hatten jede Farbe verloren. Er legte seine Hand auf ihren Arm und gab ihr durch die Kraft seiner Persönlichkeit und durch die seelische Beziehung, die sie miteinander verband, ein wenig Beruhigung.
    Mara drehte sich zu ihm um und blickte ihm in die Augen. Schnell fiel sie in seinen hypnotischen Bann, und die seltene Gabe, Vergangenes zu schauen und ihm das Gesehene mitzuteilen, erwachte in ihr.
    Die Bilder, die sich auf ihn übertrugen, waren weder klar noch kontinuierlich. Klar war nur der Schock über das entsetzliche Geschehen.
    Er sah das schlafende Kind, ein Mädchen. Er spürte, wie sie erwachte, als die Bestie durch die unverschlossene Tür kam – unverschlossen, weil niemand auf die Idee käme, einen Harijan, einen Kastenlosen, zu bestehlen. Selbst ein Hundefresser würde sich besudelt fühlen, auch nur in Berührung mit einem Harijan zu kommen.
    Er sah das Entsetzen des Kindes und seine Abwehr. Er spürte die fürchterlichen Qualen. Es ergriff jede Faser seines abgehärteten Seins, denn selbst die schrecklichsten Erlebnisse konnten einen Menschen nicht so abstumpfen, daß er diese Bilder gefühllos ertrug.
    »Und nun«, forderte sein Geist Mara auf, »müssen wir die Spur verfolgen.«
    Langsam schritt sie durch die Tür, hinaus ins Tageslicht, und er folgte ihr. Die Eltern kauerten gramgebeugt auf dem Boden vor der Hütte. Ihre Köpfe waren mit Asche bestreut und die alten Lumpen, die ihnen als Kleidung dienten, noch mehr zerfetzt. Hugo stand unbewegt im Hintergrund. Major Grant suchte den Boden nach Spuren ab. Ein kleiner brauner, fast nackter Mann half ihm dabei. Sein Kopf berührte fast die Erde. Er schien wie ein Jagdhund zu schnüffeln.
    Grant war groß, wirkte ein wenig kantig und trug einen wirren Schnurrbart. Seine Augen waren von einem verwaschenen Blau, und die unzähligen geplatzten Äderchen auf seiner Geiernase verrieten den Trinker. Eli nahm an, daß diese offenkundige Schwäche etwas mit seinem vorzeitigen Abschied aus der Armee zu tun hatte, denn das Pensionierungsalterhatte er noch lange nicht erreicht. Unter dem Arm trug er eine doppelläufige Elefantenbüchse.
    »Nichts«, brummte er mit leicht schottischem Akzent. »Nichts. Nicht einmal Obo findet etwas. Dieser Boden…«
    Es überraschte Eli nicht, daß keine Spuren sichtbar waren, denn natürlich war der Boden hier ungewöhnlich steinig, sonst hätten die Harijan sich überhaupt nicht ansiedeln dürfen. Für sie gab es nur Land, das kein anderer wollte.
    Eli gab dem weißen Jäger ein Zeichen still zu sein. Mara hatte sich umgedreht und folgte wie eine
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