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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt
Autoren: James Herriot
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wurden.
    Als ich den Hof verließ, hatte ich das beglückende Gefühl, etwas geleistet zu haben, und ich war erleichtert, daß Mr. Hopps’ Schamhaftigkeit meinen Besuch nicht vergeblich gemacht hatte.
     
    Merkwürdigerweise fand ich bei meiner Rückkehr gleich ein weiteres Beispiel derselben Art vor.
    Mr. Pinkerton saß im Büro neben Miss Harbottles Schreibtisch. Zu seinen Füßen lag sein Collie.
    »Was kann ich für Sie tun, Mr. Pinkerton?« fragte ich, als ich die Tür hinter mir schloß.
    Der Farmer zögerte. »Es ist mein Hund – da stimmt was nicht.«
    »Wie meinen Sie das? Ist er krank?« Ich bückte mich und streichelte den Kopf des Hundes, der sogleich schwanzwedelnd aufsprang und mich begrüßte.
    »Nein, nein, er ist sonst ganz in Ordnung.« Der Mann war sichtlich sehr verlegen.
    »Na, was ist denn los? Er sieht völlig gesund aus.«
    »Tja, aber ich weiß nicht... Sehen Sie, es ist...« Er blickte verstohlen zu Miss Harbottle hinüber. »Es ist sein Bleistift.«
    »Wie bitte?«
    Mr. Pinkertons eingefallene Wangen röteten sich. Wieder warf er Miss Harbottle einen angsterfüllten Blick zu. »Es ist sein... sein Bleistift. Er hat was an seinem Bleistift.« Er zeigte betreten auf den Hundebauch.
    »Tut mir leid, aber ich sehe nichts Ungewöhnliches.«
    »Aber da ist es doch.« Das Gesicht des Farmers zuckte in peinlicher Verlegenheit, und er flüsterte mir heiser ins Ohr: »Da kommt was raus, aus seinem... aus seinem Bleistift.«
    Ich kniete mich hin und sah es mir näher an, und plötzlich war mir alles klar.
    »Meinen Sie das?« Ich zeigte auf einen winzigen Tropfen Samenflüssigkeit am Ende der Vorhaut.
    Er nickte beschämt.
    Ich lachte. »Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das ist nichts Anormales. Man nennt das einen Überfluß. Er ist doch noch jung, nicht wahr?«
    »Ja, etwa achtzehn Monate.«
    »Das ist es. Er hat einfach zuviel Freude. Viel gutes Fressen und nicht viel Arbeit, was?«
    »Ja, er kriegt gutes Futter. Nur das Beste. Und Sie haben recht – viel Arbeit hab ich nicht für ihn.«
    »Na, sehen Sie. Geben Sie ihm etwas weniger zu fressen, und sehen Sie zu, daß er mehr Bewegung hat, und dann geht das ganz von selbst vorüber.«
    Mr. Pinkerton starrte mich an. »Aber werden Sie denn nichts mit seinem... mit seinem...« Wieder blickte er ängstlich auf die Sekretärin.
    »Nein, nein«, sagte ich. »Ich versichere Ihnen, daß sein... sein... Bleistift völlig in Ordnung ist.«
    Ich sah, daß ich ihn durchaus nicht überzeugt hatte und entschloß mich zu einer Zugabe. »Wissen Sie was? Ich gebe Ihnen ein mildes Beruhigungsmittel. Das wird helfen.«
    Ich ging zum Medikamentenschrank und packte ein paar Tabletten ab. Ich reichte sie dem Farmer mit einem Lächeln, aber er blickte immer düsterer drein. Offenbar hatte ich es ihm nicht klar genug erklärt, und deshalb faßte ich die ganze Angelegenheit auf dem Weg zur Haustür in noch einfachere Worte.
    Ich klopfte ihm noch einmal auf die Schulter, und obwohl mich mein langer Redeschwall außer Atem gebracht hatte, faßte ich es noch einmal kurz zusammen. »Hören Sie«, sagte ich, »geben Sie ihm weniger zu fressen, sehen Sie zu, daß er möglichst viel Bewegung hat, und tun Sie ihm morgens und abends je eine Tablette ins Futter.«
    Der Farmer verzog den Mund. Dann drehte er sich um und ging die Stufen hinunter. Er blickte sich noch einmal um und rief mit vorwurfsvoller Stimme: »Aber, Mr. Herriot, was ist nun mit seinem Bleistift?«
     
    Als der kleine Mr. Gilby stöhnend auf dem Boden seines Kuhstalls zusammensank, war mein erster Gedanke, wie ungerecht es doch war, daß es ausgerechnet ihm passieren mußte.
    Denn in ihm waren das Zartgefühl und die Zurückhaltung der Menschen jener Zeit bis in das Extrem verkörpert. Selbst seine äußere Erscheinung hatte etwas Ätherisches an sich: Sechsundfünfzig Kilo Haut und Knochen ohne Fett und ein sanftes, unschuldiges, fast kindliches Gesicht trotz seiner fünfzig Jahre. Niemand hatte Mr. Gilby je fluchen oder ein unanständiges Wort aussprechen hören, und er war meines Wissens der einzige Farmer, der den Kuhmist als »Dünger« bezeichnete.
    Außerdem war er ein frommer Methodist, trank nicht, war irdischen Lustbarkeiten abhold und hatte in seinem Leben noch nie gelogen. Er war von einer solchen Güte, daß ich argwöhnisch geworden wäre, wenn es sich um jemand anders gehandelt hätte. Aber Mr. Gilby war wirklich ein lieber kleiner Mann, und so ehrlich wie Gold. Ihm hätte ich mein
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