Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
Autoren: Kurt Vonnegut
Vom Netzwerk:
offenbaren Stimmungen betraf, hatte ich mich nicht geirrt.
    Aber je mehr ich über die Menschen von Chicago nachgrübelte, desto bewußter wurde ich mir einer enormen Präsenz dort. Sie war fast wie Musik, Musik, die man in New York oder
Boston oder San Francisco oder New Orleans nicht zu hören bekommt.
    Es war der Lake Michigan, ein Ozean aus reinem Wasser, der wertvollsten Substanz auf dieser ganzen Welt.
    Nirgendwo sonst in der nördlichen Hemisphäre gibt es so enorme Süßwassermassen wie in unseren Großen Seen, außer in Asien, wo es nur den
Baikalsee gibt. Also gibt es doch etwas Unverwechselbares an eingeborenen Mittelwestlern. Bitte sehr: Als wir geboren wurden, müssen rings um uns in Seen und Bächen und Flüssen und
Regentropfen und Schneewehen unglaubliche Mengen Süßwasser gewesen sein, und nirgends untrinkbares Salzwasser!
    Sogar meine Geschmacksknospen sind deshalb mittelwestlich. Wenn ich im Atlantik oder Pazifik schwimme, finde ich, daß das Wasser völlig falsch schmeckt, obwohl es, wenn man es nicht
schluckt, eigentlich auch nicht ekelerregender ist als Hühnersuppe.
    Außerdem waren Millionen und Abermillionen Morgen Ackerkrume um unsere Mütter und uns, als wir geboren wurden, so flach wie Billardtische und so üppig wie Schokoladenkuchen. Der
Mittlere Westen ist keine Wüste.
    Als ich geboren wurde, 1922 war das, kaum hundert Jahre nachdem Indiana der neunzehnte Staat der Union geworden war, prunkte der Mittlere Westen bereits mit einer
Konstellation von Städten, die Symphonieorchester und Museen und Bibliotheken hatten, und höhere Lehranstalten und Musik- und Kunstschulen. Das erinnerte an Österreich-Ungarn vor dem
Ersten Weltkrieg. Man könnte fast sagen: Chicago war unser Wien, Indianapolis unser Prag, Cincinnati unser Budapest und Cleveland unser Bukarest.
    Wenn man wie ich in so einer Stadt aufwuchs, fand man solche kulturellen Einrichtungen so normal wie Polizei- oder Feuerwachen. Deshalb war es für einen jungen Menschen durchaus
realistisch, Tagträumen nachzuhängen, in denen man eine Art Künstler oder Intellektueller oder vielleicht sogar Polizist oder Feuerwehrmann wurde. Ich hing diesen Tagträumen
nach. Viele wie ich hingen ihnen nach.
    Solche Provinzhauptstädte, wie sie in Europa genannt worden wären, waren, was die schönen Künste betraf, auf charmante Weise autark. Manchmal kam der Direktor des
Symphonieorchesters von Indianapolis zu uns zum Abendessen, oder Schriftsteller und Maler oder Architekten, Kollegen meines Vaters, von hohem Ansehen in der Stadt.
    Ich habe beim Ersten Klarinettisten unseres Symphonieorchesters Klarinette studiert. Ich erinnere mich, wie das Orchester Tschaikowskys Ouvertüre
1812 aufführte, und der Kanonendonner wurde von einem Polizisten beigesteuert, der mit Schreckschußmunition in eine leere Mülltonne feuerte. Ich kannte den
Polizisten. Manchmal bewachte er Straßen, die Schüler auf ihrem Weg zur Schule Nr. 43 oder auf dem Heimweg von der Schule Nr. 43 überquerten, meiner Schule, der James
Whitcomb Riley School.
    So ist es nicht überraschend, daß der Mittlere Westen so viele so verschiedene Künstler hervorgebracht hat, von Weltklasse bis lediglich kompetent, wie früher die
Residenzstädte in Europa.
    Ich sehe keinen Grund, weshalb dieser befriedigende Zustand nicht an- und an- und andauern sollte, wenn nicht die Mittel für die Unterweisung in den Künsten und das Feiern derselben,
besonders im System der öffentlichen Schulen, gestrichen werden.
    An einer Kunst teilzuhaben ist nicht nur schlicht eine von vielen Möglichkeiten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein aussterbendes Gewerbe, da wir uns dem Jahr
2000 nähern. An einer Kunst teilzuhaben hat im Grunde nichts mit Geldverdienen zu tun. Man mache mit bei einer Kunst – gern auch ohne Aussicht auf Geld und Ruhm, der Mittlere
Westen hat gezeigt, wie’s geht, und bisher viele seiner Jungen zu dieser Entdeckung ermutigt – und lasse seine Seele wachsen.
    Kein Künstler von irgendwo jedoch, nicht einmal der alte Shakespeare, nicht einmal Beethoven, nicht einmal James Whitcomb Riley, hat den Verlauf so vieler Leben
überall auf dem Planeten so sehr verändert wie vier Landeier in Ohio, zwei in Dayton und zwei in Akron. Ach, wären doch Dayton und Akron in Indiana! Ohio könnte gern Kokomo und
Gary haben.
    Orville und Wilbur Wright waren 1903 in Ohio, als sie das Flugzeug erfanden.
    Dr. Robert Holbrook Smith und William Griffith Wilson waren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher