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Der Tag mit Tiger - Roman

Der Tag mit Tiger - Roman

Titel: Der Tag mit Tiger - Roman
Autoren: Aufbau
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Aufforderung und legte sich auf das Polster. »Komm näher zu mir, Anne, bitte. Mir wird so kalt.«
    Sofort kroch Anne zu ihm auf die Decke und drückte ihren Körper an sein Fell. So lagen sie im Dämmerschein der Wohnung. Mondlicht und der gelbliche Schimmer einer Straßenlaterne füllten das Viereck des Fensters. Anne fühlte, wie sich seine Rippen bei jedem mühsamen Atemzug hoben und senkten und wie sein erschöpftes Katzenherz unter dem weißen Pelz in der Brust schlug.
    Leise, kaum hörbar, fing er an zu reden.
    »Wenn du nachher aufwachst, Anne, wirst du alles vergessen haben, was du heute erlebt hast. Vielleicht wirst du dich hin und wieder wie an einen fernen Traum daran erinnern, aber nie, dass es wirklich geschehen ist. Aber du wirst uns manchmal mit anderen Augen sehen, und auch einige Katzen werden wissen, was geschehen ist. Nina zum Beispiel und Jakob. Auch Tim und Tammy und manche fremde Katze, die du heute noch gar nicht kennst. Weißt du, es ist nichts Ungewöhnliches, was dir passiert ist. Es kommt immer wieder vor. Wir Traumkatzen dürfen hin und wieder die Zeit aufheben, einen Menschen bei uns aufnehmen und ihm einen kleinen Ausschnitt unseres Lebens zeigen.« Tiger machte sinnend eine kurzePause. Anne hob ein wenig den Kopf und sog die Luft ein, um zu einer Frage anzusetzen, aber Tiger unterband das sofort. »Frag nichts, Anne, alles, was ich dir sagen kann und darf, werde ich dir sagen. Dazu reicht die Zeit noch.« Er pustete ihr leicht ins Ohr und fuhr dann fort: »Du hast dich sehr geschickt angestellt als Katze, aber das habe ich eigentlich auch nicht anders erwartet.« Er brachte sogar noch ein leises Kichern zustande. »Als Mensch hast du dich auch als brauchbar erwiesen.«
    Obwohl seine blinden Augen geschlossen waren, konnte er den empörten Blick doch ahnen. Leise und besänftigend fuhr er fort: »Eigentlich bist du sogar sehr gut zu mir gewesen, und das ist der eigentliche Grund, warum du diesen letzten Tag meines derzeitigen Lebens mit mir verbringen solltest. Weißt du, irgendwer hat die dumme menschliche Weisheit aufgebracht, wir Katzen hätten neun Leben. Glaub mir, es sind so viel mehr. Ich kann mich an Zeiten erinnern … Aber der letzte Tag ist immer schwer. Ich glaube, daran gewöhnt man sich nie. Es wird so kalt, Anne, und so dunkel. Bis man dann wieder das Licht sieht. Und es ist unendlich tröstlich, wenn man dann jemanden dabei hat, der einem bei den letzten Schritten hilft. Es war so lieb von dir, dass du mich nicht bei dem Tierarzt gelassen hast und dich am Abend zu mir gesetzt hast. Ja, ja, ich weiß schon, was mit mir passiert ist. Eine kleine Weile war mein Bewusstsein nicht in meinem Körper, das heißt aber noch lange nicht, dass ich nicht merke, was vor sich geht.«
    Tiger nahm seine linke Pfote und legte sie tastend auf Annes Hals. Er schwieg eine Weile, als ob er nach Worten suchen würde. Anne kuschelte sich ein bisschen näher an ihn heran, wagte aber keine Silbe zu äußern. Sein Fell war kühl und sauberund roch noch ein wenig nach Rauch. Sein Atem ging flach, kaum hörbar.
    »Es ist jetzt bald soweit. Leb wohl, Anne. Obschon – ich denke, wir werden uns wieder treffen. So oder so. Und dann wirst du wissen.«
    Seine Nase fand die ihre und er pustete ihr zärtlich seinen Atem in die Nase. Es war wie ein Küsschen.
    »Tiger, mein liebster Tiger«, hauchte Anne und strich mit ihren Pfoten über sein weißes, mittelgescheiteltes Gesicht.
    »Lass uns schlafen«, flüsterte Tiger. »Ich liebe dich.«

Schmerzliches Erwachen und eine neue Freundschaft
    Anne wachte mit wehen, verkrampften Muskeln auf und merkte, dass sie völlig verdreht auf ihrem Sofa lag. Die glatten, leicht gebräunten Arme hatte sie um ihren Kater geschlungen und das Gesicht in seinem Rückenfell vergraben. Mühsam hob sie den Kopf trotz schmerzender Nackenmuskulatur und blickte auf den kleinen schwarzbraunen Pelz.
    »Hallo, mein Tiger, ich bin bei dir eingeschlafen«, murmelte sie und fuhr dem reglosen Tier über den Kopf.
    Erschrocken hielt sie inne.
    »Tiger, Tiger, wach auf!«
    Dann fiel ihr der Vorabend wieder ein. Der angefahrene Kater, den sie beim Nachhausekommen auf dem Bürgersteig gefunden hatte, der Tierarzt, der ihr seine geringen Überlebenschancen geschildert hatte, und ihre Bitte, ihn mit nach Hause nehmen zu dürfen, damit er auf seinem eigenen Deckchen sterben konnte.
    Das war jetzt geschehen. Tiger atmete nicht mehr.
    Ruhig und entspannt lag er auf seiner Decke und hatte –
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