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Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller
Autoren: John Katzenbach
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gelassen, als sie uns durch die Büroräume schleusten, um die Formalitäten zu erledigen. Formalitäten! Selbst beim Morden kamen die Deutschen nicht ohne diesen Papierkram aus! Also füllte der Büroangestellte der Gestapo die Formulare aus, und sie brachten uns in die Zellen, wo wir auf unseren Abtransport warten sollten. Rein zufällig sah ich für den Bruchteil einer Sekunde durch diese Tür, Mr.Winter, aber er stand da, zwischen zwei Offizieren in diesen schrecklichen schwarzen Uniformen. Sie lachten alle über einen Witz, und ich wusste, das war er. Er hatte den Hut aus der Stirn geschoben; er sah auf und rief etwas, und sie schlugen die Tür zu, und ich dachte, jetzt komme ich mit absoluter Sicherheit in den Keller, doch stattdessen verfrachteten sie mich noch am selben Tag auf einen Zug ins KZ . Wahrscheinlich ging er davon aus, dass ich dort sterben würde. Ich war noch so klein – zwar sechzehn, aber kaum größer als ein Kind –, und doch habe ich sie alle in Staunen versetzt, indem ich überlebte.«
    Sie hielt inne und schnappte nach Luft.
    »Ich wollte nicht sterben. Damals nicht. Heute nicht. Noch nicht.«
    Sophie Millstein war selbst mit den Einlegesohlen, die sie in ihren orthopädischen Schuhen trug, eine kleine Frau, kaum einen Meter fünfzig, und ein wenig übergewichtig. Neben Simon Winter, der auch im Alter noch fast eins fünfundneunzig maß, wirkte sie wie ein Zwerg. Sie hatte ihr weißes Haar zu einem Dutt gebunden, um noch ein paar Zentimeter herauszuschinden, was normalerweise eher lächerlich wirkte, besonders wenn sie in dreiviertellangen, leuchtend bunten Polyesterhosen und geblümten Blusen aus ihrer Wohnungstür trat und auf dem Weg zum Supermarkt einen Einkaufsroller hinter sich herzog. Simon Winters Bekanntschaft mit ihr beschränkte sich im Wesentlichen auf kurze Begegnungen im Flur, bei denen er ihr höflich zunickte und ansonsten versuchte, einer längeren Unterhaltung aus dem Weg zu gehen, die sich unweigerlich um die eine oder andere Klage über die Stadt, über die Hitze, über Teenager und laute Musik, über ihren Sohn, der sich nicht oft genug meldete, über das Älterwerden, ihr Witwendasein oder um ähnliche Themen drehte, die er allesamt lieber mied. Er war seiner Nachbarin, mit der ihn wenig zu verbinden schien, bis zu diesem Tag mit distanzierter, förmlicher Höflichkeit begegnet. Doch die Angst in ihren Augen sprengte nun den Rahmen des gewohnten Umgangs und knüpfte zwischen ihnen eine neuartige Beziehung.
    Der eingefleischte Kriminalist in ihm wusste nicht recht, was er glauben sollte; nur was er aus eigener Anschauung bestätigen konnte, hatte für ihn Gewicht.
    Und das Einzige, um das er bis dahin aus eigener Anschauung wusste, war Sophie Millsteins Angst.
    Während er sie musterte, bemerkte er, wie sie ein Schauder überlief. Sie sah mit einem fragenden Blick zu ihm auf.
    »Fünfzig Jahre. Und ich habe ihn nur diesen einen Moment gesehen. Könnte ich mich vielleicht irren, Mr.Winter?«
    Er hielt es für besser, diese Frage nicht zu beantworten, da die Möglichkeit, dass sie richtig lag, gegen null ging. Dieser Mensch – dieser Schattenmann – musste vor fünfzig Jahren jung gewesen sein, nicht älter als Anfang zwanzig. Und jetzt wäre er ein alter Mann. Sein Haar, seine Hautfarbe mussten sich verändert haben; seine Züge waren zweifellos erschlafft. Sein Gang war gewiss ganz anders. Selbst seine Stimme konnte nicht die gleiche sein. Nichts war noch wie damals.
    »Hat der Mann heute etwas zu Ihnen gesagt?«
    »Nein. Er hat mich nur angestarrt. Unsere Blicke trafen sich, es war spät am Nachmittag, und die Sonne hinter ihm blendete mich. Im nächsten Moment war er verschwunden, einfach so, als hätte ihn das gleißende Licht verschluckt – und ich bin gerannt, Mr.Winter, ich bin gerannt. Na ja, nicht so schnell wie damals, aber ich hatte dasselbe Gefühl, Mr.Winter, ich war so froh, als ich sah, dass bei Ihnen noch Licht brannte, weil ich solche Angst hatte, allein zu sein.«
    »Er hat nichts gesagt?«
    »Nein.«
    »Hat er Sie bedroht oder irgendeine Geste gemacht?«
    »Nein. Er hat mich nur angestarrt. Augen wie Rasierklingen, wie gesagt.«
    »Und wie sah er aus?«
    »Er war groß – wenn auch nicht so groß wie Sie, Mr.Winter, dafür kräftig gebaut, eher stämmig. Schultern und Arme wie ein junger Mann.«
    Simon Winter nickte. Seine Skepsis nahm zu. Ein ehemaliger Kommissar des Morddezernats steckte den Rahmen des Möglichen schon ziemlich weit,
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