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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Namen und seine Herkunft genannt, er sich vor Hermes ge-fürchtet hätte, dem ich geweiht war, der nun auch seinen Namen gekannt hätte, und als frommer Mann hielt er die Götter für entsetzlich eifersüchtig, und vielleicht ahnte er auch, daß, hätte er nach meiner Herkunft geforscht, welches er doch aus der Neugier eines Liebenden hätte tun sollen, er darauf gestoßen wäre, daß ich seine Mutter war. Aber er fürchtete sich vor der Wahrheit, und auch ich fürchtete mich vor ihr. So wußte er nicht, daß er mein Sohn, und ich nicht, daß ich seine Mutter war. Ich zog mich, glücklich über einen Geliebten, den ich nicht und der mich nicht kannte, mit meinen Löwinnen in mein Heiligtum im Gebirge Kithairon zurück; Ödipus besuchte mich immer wieder, unser Glück war rein wie ein vollkommenes Geheimnis. Nur die Löwinnen wurden unruhiger, bösartiger, nicht gegen Ödipus, sondern gegen mich. Sie fauchten mich an, immer erregter, unberechenbarer, und schlugen mit ihren Tatzen gegen mich. Ich schlug mit meiner Peitsche zurück. Sie duckten sich, knurrten, und als Ödipus nicht mehr kam, griffen sie an, und ich wußte plötzlich, daß etwas Unfaß-
    bares geschehen war – nun, ihr habt ja gesehen, was mit mir geschah und nun in der Unterwelt immer wieder geschieht.

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    Und als von der Erdspalte her, über der Pannychis sitzt, eure Stimmen zu mir herunterwehten, vernahm ich die Wahrheit, hörte ich, was ich schon längst hätte wissen müssen und was doch nichts geändert hätte, daß mein Geliebter mein Sohn gewesen ist, und du, Pannychis, hast die Wahrheit verkündet.«
    Die Sphinx begann zu lachen, wie vorher die Pythia bei Ödipus gelacht hatte. Auch ihr Lachen wurde immer unermeßlicher, selbst als sich die Löwinnen wieder auf sie stürzten, lachte sie, auch als sie ihr das weiße Kleid vom Leibe rissen und als die Löwinnen sie zerfleischten, lachte sie immer noch.
    Dann war nicht mehr auszumachen, was da von den gelben Bestien verschlungen wurde, das Lachen verhallte, als die Löwinnen das Blut aufgeleckt hatten und verschwanden.
    Dampf stieg wieder aus der Erdspalte. Mohnrot. Die sterbende Pythia war allein mit dem kaum noch sichtbaren Schatten des Tiresias. »Ein bemerkenswertes Weib«, sagte der Schatten.
    Die Nacht war einem bleiernen Morgen gewichen, schlagar-tig war er in die Höhle eingebrochen. Aber es war weder ein Morgen noch eine Nacht, sondern etwas Wesenloses, das unaufhaltsam hereingeflossen kam, weder Licht noch Dunkel-heit, schatten- und farblos. Wie immer in dieser ersten Frühe, legten sich die Dämpfe als kalte Feuchtigkeit auf den Steinbo-den, klebten an den Felswänden, bildeten schwarze Tropfen, die langsam ihrer Schwere nachgaben und als lange dünne Fäden in der Erdspalte verschwanden.
    »Nur eines verstehe ich nicht«, sagte die Pythia. »Daß mein Orakel zutraf, wenn auch nicht so, wie Ödipus es sich nun einbildet, ist ein unglaublicher Zufall; aber wenn Ödipus dem Orakel von Anfang an glaubte und der erste Mensch, den er tötete, der Wagenlenker Polyphontes war und die erste Frau, die er liebte, die Sphinx, warum kam ihm dann nicht der Verdacht, sein Vater sei der Wagenlenker gewesen und seine Mutter die Sphinx?«
    »Weil Ödipus lieber der Sohn eines Königs als der Sohn 127

    eines Wagenlenkers sein wollte. Er wählte sich sein Schicksal selber aus«, antwortete Tiresias.
    »Wir mit unserem Orakel«, stöhnte Pannychis verbittert, »nur dank der Sphinx kennen wir die Wahrheit.«
    »Ich weiß nicht«, meinte Tiresias nachdenklich, »die Sphinx ist eine Priesterin des Hermes, des Gottes der Diebe und der Betrüger.«
    Die Pythia schwieg; seit der Dampf nicht mehr aus der Erdspalte stieg, fror sie.
    »Seit sie das Theater bauen«, behauptete sie, »dampft es hier viel weniger«, und dann meinte sie noch, die Sphinx habe nur in Hinsicht auf den thebanischen Hirten nicht die Wahrheit gesagt, »sie hat ihn wohl kaum zu einem Heiligtum geschickt, sondern den Löwinnen vorgeworfen wie den Ödipus, den Sohn der Iokaste; und ihren Ödipus, ihren Sohn, den übergab sie eigenhändig dem korinthischen Hirten. Die Sphinx wollte sichergehen, daß ihr Sohn am Leben blieb.«
    »Kümmere dich nicht darum, Alte«, lachte Tiresias, »laß sein, was doch anders war und immer wieder anders sein wird, je mehr wir forschen. Sinne nicht mehr nach, sonst steigen weitere Schatten herauf und hindern dich am Sterben. Was weißt du denn, vielleicht gibt es einen dritten Ödipus. Wir wissen nicht, ob
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