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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm
Autoren: Krystyna Kuhn
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ihm folgten, und ehrlich gesagt, ging es ihm am Arsch vorbei. Er konnte nicht warten.
    Er hatte das Gefühl zu rennen, obwohl das bei dem Schnee und bei der Dunkelheit unmöglich war. Gleichzeitig kostete jeder Schritt unendlich viel Kraft. Chris glaubte, er würde es niemals schaffen. Seine Beine waren im Schnee wie Blei. Er hörte sich selbst keuchen und sein Körper triefte vor Nässe, doch er konnte nicht unterscheiden, ob es Schweiß war oder lediglich die nasse Kleidung. Sein Herz war kurz davor zu platzen...und er sog so viel feuchte Luft ein, dass er das Gefühl hatte, beim nächsten Atemzug würde sie in seinen Lungen gefrieren und er würde an seinem eigenen Atem ersticken.
    Aber er durfte nicht stehen bleiben. Wenn er das tat, würde er anfangen zu denken. Und er wollte nicht denken, weil er wusste, dann würde er durchdrehen.
    Also lief er weiter.
    Und dann plötzlich, wie auf einen Schlag, spürte er nichts mehr. Plötzlich schien sein Bewusstsein völlig losgelöst von ihm. Er wusste nur, er musste weiterlaufen vorbei am historischen Hauptgebäude, vorbei an der Seepromenade, aufs Nordufer zu und von dort auf den Pfad am Hochufer.
    Doch wohin ihn dieser Weg durch den Schnee und in der Dunkelheit führte, das war Chris erst klar, als er an der Brücke angelangt war.
    Der Gedenkstein.
    Remembrance Day.
    Es schien, als ob sich die einzelnen Ereignisse an diesem Tag langsam ineinanderfügten.

    Chris war kein Held. War immer jemand gewesen, der, wie es hieß – einfach nur sein Ding durchzog. Aber dann hatte sein Vater ihm nach seinem Tod ein verfluchtes Erbe hinterlassen. Dieses beschissene Gefühl von Leere, von Unsicherheit und kistenweise Fragen. Fragen, die er an seinen Vater und an dieses Tal hatte und auf die er nie eine Antwort bekommen würde, außer er würde sich selbst auf den Weg machen. Sein superschlauer Dad hatte über zwanzig Bücher geschrieben. Bücher, die vorgaukelten, Antworten zu geben auf die...wie Brandon es immer nannte...die großen Fragen des Lebens.
    Ha! Von wegen! Mit jedem Satz, den sein Vater in seinen Werken hingeschmiert hatte, hatte er ein ganzes Rattennest von weiteren Fragen gestellt.
    Und jetzt, als Chris stehen blieb, genau an dieser Weggabelung, fragte er sich, ob er wirklich noch Antworten wollte.
    Und er wusste, dass er die Frage bejahen musste. Für sie. Für Julia.
    Der Wald wurde immer dichter. Die Dunkelheit verschluckte alles. Es gab keinen direkten Weg zum Grabstein und Chris war nicht oft hier gewesen, hatte Julia nur ab und zu begleitet.
    Er kletterte die Böschung nach oben, stolperte mehr, als er ging, hielt sich an Wurzeln und Baumstümpfen fest, die aus dem Schnee ragten. Ab und zu fiel er hin, doch keine Sekunde blieb er liegen, sondern rappelte sich sofort wieder auf.
    Und dann hörte er sie.
    Es war eindeutig, ganz eindeutig.
    Debbies Jammern, ihr weinerlicher Tonfall – er hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er es überall wiedererkennen würde. Doch zum ersten Mal in seinem Leben war er froh darüber – hätte fast aufgeschrien vor Freude.
    Sie konnten nicht weit vor ihm sein!
    Unwillkürlich wurde er langsamer. Der Schnee unter seinen Schuhen knirschte und Chris hielt den Atem an. Das Geräusch schien durch den Wald zu hallen, so kam es ihm zumindest vor. In Wirklichkeit war es vermutlich kaum zu hören.
    Er hatte keine Ahnung, was Forster vorhatte, welches Motiv er verfolgte. Warum er die beiden Mädchen ausgerechnet hierhergebracht hatte. Aber er durfte kein Risiko eingehen.
    Er schlich weiter, von Baum zu Baum, und spähte dabei angespannt nach vorn. Doch auch wenn er Debbies klagende Stimme weiter durch den Wald vernahm, entdeckte er sie nicht.
    Waren Julia und Forster überhaupt bei ihr? Er konnte nur Debbie hören.
    Dann plötzlich sah Chris den Himmel vor sich. Ein kreisrunder Fleck, umrahmt von den hohen Wipfeln der Fichten, die sich im nachlassenden Wind nur noch leise hin und her bewegten.
    Die Lichtung, wo der Gedenkstein stand! Chris ließ sich auf den Boden fallen, presste sich dicht an einen umgestürzten Baumstamm und lauschte. Er hörte sich selbst laut atmen und wagte nicht, sich zu rühren. Seine Hand suchte nach dem Handy in seiner Hosentasche. Er drückte irgendeine Taste. Das Display leuchtete hell in der Dunkelheit, während seine starren Finger mühsam die Buchstaben tippten.
    GEDENKSTEIN.
    Dann suchte er nach Benjamins Nummer und schickte die Nachricht ab. Er wollte das Handy zurück in die Tasche stecken, als ihm
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