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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm
Autoren: Krystyna Kuhn
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nicht stimmte, etwas unter der Oberfläche lauerte, worüber kaum jemand sprach.
    Zunächst war es nur ein Geräusch, das nur langsam zu ihm durchdrang, doch dann wurde es zu der Melodie aus dem Western High Noon.
    Sein Handy.
    Unbekannter Anrufer.
    Rangehen oder ignorieren? Aus Gewohnheit oder Neugierde – Chris’ Zeigefinger lag bereits auf der grünen Taste.
    »Hallo?«
    »Ich bin’s.«
    Wie immer, wenn er Julias Stimme hörte, spürte er dieses Gefühl von Erleichterung. Sie war noch da, war nicht verschwunden, sie dachte an ihn. Und er fühlte sich auf einmal unglaublich gut gelaunt, sein Herz pochte aufgeregt und sein Körper war plötzlich wie durch ein Wunder voller Energie.
    »Von wo aus rufst du an? Bist du etwa alleine losgefahren? Ohne mich?«
    »Nein, ich...«
    Eine Stimme im Hintergrund.
    »Was wolltest du sagen?«
    »Ich will so schnell wie möglich hier weg, Chris.«
    »Kein Problem. Ich bin fertig. Wo bist du?«
    »Ich sitze in der Eingangshalle. Einer der Securitybeamten, Mr Mason, hat mir sein Handy geliehen.«
    In der nächsten Sekunde hörte Chris wieder die tiefe Stimme im Hintergrund und spürte einen Stich. Mason? War das nicht dieser Steve? Ein groß gewachsener Typ mit breiten Schultern und einem abscheulichen Akzent, der seine Herkunft aus Texas verriet? Und der mit Vorliebe mit den hübschesten Studentinnen flirtete? Chris kannte ihn von den Drogenkontrollen, die am Grace regelmäßig durchgeführt wurden und bei denen sich der Wachmann aufführte, als befänden sie sich hier in der Bronx und nicht an einem Elitecollege.
    Debbie schwärmte immer, er sähe aus wie Edward aus Twilight – nur in Blond.
    »Moment, warte mal.« Julia rief einen Abschiedsgruß, dann sprach sie wieder in den Hörer. »Ich habe jedenfalls fertig gepackt. Kommst du?«
    »Du klingst irgendwie... aufgeregt. Fast als ob du es nicht abwarten kannst.«
    Eine kurze Pause. Dann hörte er Julia lachen, aber es klang nicht fröhlich. »Ich sag doch: Nichts wie weg.«
    Chris zögerte. Julia war bereits am Abend zuvor seltsam gewesen. Traurig. Ja, geradezu verstört. Doch er hatte lediglich aus ihr herausgebracht, dass sie am Gedenkstein gewesen war. Und dann hatte sie seine Hand genommen und geflüstert: »Bitte frag mich nicht.«
    Und nun war sie so gezwungen fröhlich, irgendwie aufgekratzt. Es kam immer wieder vor, dass Julia den anderen etwas vorspielte, das wusste Chris genau. Und nicht nur den anderen. Auch ihm.
    Er hatte schon oft versucht, sie darauf anzusprechen, aber jedes Mal war er an einer Mauer des Schweigens gescheitert. Chris kannte den Grund nicht, aber er hoffte, er würde dieses Wochenende irgendeine Schwelle überschreiten. Und würde damit endlich und unwiderruflich ihr Vertrauen gewinnen.
    »Hey, wie kommt es eigentlich, dass du mit dem Packen schon fertig bist? Du bist ein Mädchen! Das ist wider deine Natur«, sagte er möglichst locker. »Sind Rose und Benjamin etwa auch schon unten?«
    »Rose müsste jede Minute hier sein. Aber keine Ahnung, wo Debbie steckt. Sie war nicht im Apartment.«
    »Die hätte ich glatt vergessen!« Chris seufzte. Warum er sich hatte breitschlagen lassen, nicht nur Ben und Rose, sondern auch noch Debbie mit nach Vancouver zu nehmen, war ihm schleierhaft. Julias Mitbewohnerin Rose war okay und Chris’ Freund Ben sowieso – aber Debbie?
    »Wenn sie nicht rechtzeitig auf dem Parkplatz ist, fahren wir ohne sie.«
    »Chris!« Julias Stimme klang weniger tadelnd als abgelenkt, als wieder die tiefe männliche Stimme im Hintergrund ertönte und Julia offenbar eine Frage stellte.
    Julias Antwort konnte Chris nicht verstehen. Dann sprach sie wieder ins Handy. »Okay, ich warte in der Halle auf dich. Bis gleich.«
    »Was will der Typ...«
    Doch Julia hatte bereits aufgelegt.

    Chris ging bei Ben vorbei, der noch seine Kameraausrüstung einpackte und versprach, in ein paar Minuten nachzukommen. Sie würden Rose am Flughafen in Vancouver absetzen, Debbie zu ihrer Großmutter bringen, die in der Nähe von Vancouver wohnte, und Benjamin . . . »Setz mich einfach irgendwo ab«, hatte Ben gesagt. »Ich werde sehen, wohin mich das Schicksal führt.«
    Auf dem Weg nach unten geriet Chris in den Strom der Studenten, die sämtliche Aufzüge blockierten und auf den Treppen an ihm vorbeirannten. Überall standen Rucksäcke, Taschen und Koffer im Weg; Gelächter und fröhliche Stimmen klangen durch die Gänge.
    Alessa und Katja kamen ihm entgegen, die beiden waren Freundinnen von Rose und
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