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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm
Autoren: Krystyna Kuhn
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in den Schulferien in einer Druckerei. Er lernte, wie schwer es war, Geld zu verdienen – und wie leicht es war, es wieder auszugeben.
    »Ich will nicht, dass du das alles bezahlst.« Julia konnte beharrlich sein.
    »Das ist ein Geschenk, Julia. Mein Geschenk für dich. Geschenke nimmt man an, sonst ist der Schenkende beleidigt.«
    »Und Robert?«
    »Wie alt ist dein Bruder? Siebzehn, oder? Da wird er ja wohl ein Wochenende ohne dich verbringen können.«
    Nach und nach hatte er ihre Argumente widerlegt und ausgerechnet David hatte den entscheidenden Ausschlag gegeben. Chris wohnte zwar schon seit einem halben Jahr mit David Freeman in einem Apartment, aber er konnte nicht gerade behaupten, dass sie Freunde waren. Am Anfang vielleicht. Aber dann war die Freundschaft mit David unmöglich geworden. Denn David war in Julia verliebt.
    Chris warf seinen Kulturbeutel in die Tasche. War er froh, dieses quadratische Kabuff, das sich sein Zimmer nannte, für eine Weile hinter sich zu lassen. Chris bewahrte hier nur wenige persönliche Gegenstände auf. Seinen Laptop, ein paar Bücher auf dem Regalbrett über dem Bett und das alte Radio seines Vaters auf dem Schreibtisch, das Dad früher immer mit sich herumgeschleppt hatte. Und das ständig lief, sobald Chris sich in seinem Zimmer aufhielt. Wie jetzt auch.
    Als der Sprecher den Wetterbericht ankündigte, drehte Chris die Lautstärke nach oben.
    »Der Sturm hat auf seinem Weg über die nördlichen USA viel Unheil angerichtet und zahlreiche Verletzte sowie zwei Tote gefordert. Nun ist er über Edmonton angekommen und gewinnt zunehmend an Stärke. Die Meteorologen beobachten den untypischen Verlauf des Orkans mit großer Sorge und vergleichen ihn schon mit dem großen Sturm im Januar 1998.«
    »Hey, Chris, wir fahren dann.«
    Chris drehte sich um. David stand in der Tür, den Rucksack über dem Arm. »Mach’s gut!«
    »Ihr auch!«
    »Und...« David zögerte.
    »Was?«
    »Sag Julia, dass Robert sich bei meinen Eltern wohlfühlen wird.«
    Chris nickte ihm zu. »Nett von dir, ihn einzuladen.«
    David zuckte mit den Schultern. »Wir beide kommen gut klar und es war schließlich offensichtlich, dass du . . .«, er zögerte wieder, »keinen großen Wert auf Roberts Anwesenheit legst.«
    »Tja, wie gut, dass es einen heiligen Samariter namens David gibt!« Chris gab sich keine Mühe, den ätzenden Klang seiner Stimme zu verbergen.
    »Robert ist mein Freund«, antwortete David bestimmt. »Deshalb habe ich ihn eingeladen.«
    »Und Julia ist meine Freundin. Deswegen habe ich sie eingeladen.«
    Chris wandte David ohne weiteren Abschied den Rücken zu und trat ans Fenster. Der Horizont im Osten war pechschwarz und der See erinnerte mehr denn je an einen Krater, dessen Tiefe niemand wirklich kannte. Bei seinem Anblick verstärkte sich das Gefühl der letzten Tage: das Novembergefühl, wie Chris es insgeheim nannte. Auch der 11. November vor einem Jahr war einer dieser dunklen Tage gewesen, an denen sich die Sonne nicht zeigte. Chris erinnerte sich an diesen Tag deutlicher als an jeden anderen in seinem Leben. Der ganze Monat war als die nervenaufreibendste Zeit in seinem Leben abgespeichert. Die Anrufe, die zunehmend düsteren Nachrichten, die Besuche im Krankenhaus. Die totale Überforderung. Dieser Monat hatte sich angefühlt, als hätte man ihn allein in einen schaukelnden Waggon gesetzt und ein Mann in einer Uniform hätte den Knopf gedrückt. Die Fahrt in einer Achterbahn war nichts dagegen. Er hatte sich noch so gefühlt, als er hier im Grace angekommen war. Um die Wahrheit zu sagen, war die Fahrt erst zu Ende gekommen, als er Julia begegnet war.
    Am liebsten hätte er ihr das immer wieder gesagt, aber er wusste, wie wenig Nähe Julia manchmal ertragen konnte. Die anderen hielten ihn vielleicht für einen emotionalen Loser, aber Chris spürte sehr wohl, wann sie Zeit brauchte, um sich zurückzuziehen.
    Fakt war, dass Chris noch nie Gelegenheit gehabt hatte, Julia seine Geschichte in Ruhe zu erzählen. Wie auch? Sie waren hier im College ja kaum allein – ausgenommen die Nächte, wenn Julia es schaffte, sich unbemerkt aus dem Apartment zu schleichen, was nicht einfach war mit Debbie als Wachhund.
    Nervös ging er zum Radio und schaltete es aus. Er fürchtete sich davor, den Winter hier oben verbringen zu müssen. Manchmal konnte er den eintönigen Alltag am College einfach nicht ertragen. Wenn sich scheinbar nichts bewegte, nichts veränderte, aber man spürte, dass im Tal etwas
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