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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner
Autoren: Graham Greene
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Telegramme?«
    »Verzeihung – das hatte ich ganz vergessen. Nein, nichts.«
    »Aber einen Bericht über die Auswirkungen des Bombenattentats? Wollen Sie bei der Zensur gar nichts einreichen?«
    »Ach, arbeiten Sie einen Bericht für mich aus, Dominguez. Ich weiß nicht, wieso es kommt – ich war ja dort, und ich glaube fast, ich habe einen leichten Schock erlitten. Ich bin nicht imstande, an das Ereignis im Sinne eines Pressetelegramms zu denken.« Ich schlug nach einem Moskito, der mir um die Ohren surrte, und sah Dominguez instinktiv bei meinem Hieb zusammenzucken. »Schon gut, Dominguez, ich habe ihn sowieso verfehlt.« Er lächelte kläglich. Er konnte seine Abneigung gegen das Töten nicht rechtfertigen: Schließlich war er ein Christ – einer von jenen, die von Nero gelernt hatten, wie man Menschenleiber in Fackeln verwandelt.
    »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« erkundigte er sich. Er trank nicht, er aß kein Fleisch, er tötete nicht – ich beneidete ihn um seine Sanftmut. »Nein, Dominguez. Lassen Sie mich heute abend nur allein.« Ich sah ihm vom Fenster aus nach, wie er fortging und die Rue Catinat überquerte. Ein Rikschalenker hatte meinem Fenster gegenüber sein Fahrzeug geparkt; Dominguez wollte es mieten, aber der Mann schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wartete er auf einen bestimmten Fahrgast aus einem der Geschäfte; denn hier war kein Standplatz für Rikschas. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß ich kaum länger als zehn Minuten gewartet hatte; und als Pyle klopfte, hatte ich seinen Schritt gar nicht gehört.
    »Herein.« Doch wie gewöhnlich war es der Hund, der zuerst erschien.
    »Ich war über Ihre Nachricht sehr erleichtert, Thomas. Heute morgen glaubte ich, Sie seien auf mich böse.«
    »Vielleicht war ich es auch. Es war kein hübscher Anblick.«
    »Jetzt wissen Sie schon so viel, daß es nicht schaden kann, wenn ich Ihnen ein bißchen mehr erzähle. Ich sprach heute nachmittag mit Thé.«
    »Sie sprachen mit ihm? Ist er denn in Saigon? Ich nehme an, er kam her, um zu sehen, wie seine Bombe funktioniert.«
    »Das ist streng vertraulich, Thomas. Ich habe ihn gehörig abgekanzelt.« Er redete wie der Kapitän des Fußballteams einer Schule, der bemerkt hat, daß einer seiner Spieler die Trainingsvorschriften durchbrochen hat. Trotzdem fragte ich ihn mit aufkeimender Hoffnung: »Werden Sie mit ihm Schluß machen?«
    »Ich erklärte ihm, wenn er noch einmal eine wilde Demonstration veranstaltet, dann wollen wir nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
    »Sie haben noch nicht mit ihm gebrochen, Pyle?«
    Ungehalten trat ich nach seinem Hund, der mir um die Knöchel schnupperte.
    »Das kann ich nicht. (Leg dich, Herzog.) Auf lange Sicht ist er die einzige Hoffnung, die wir haben. Wenn er mit unserer Unterstützung an die Macht käme, könnten wir uns auf ihn verlassen …«
    »Wie viele Menschen müssen denn sterben, bis Sie erkennen …« Aber ich konnte es ihm ansehen, daß dies ein wirkungsloses Argument war.
    »Was erkennen, Thomas?«
    »Daß es in der Politik so etwas wie Dankbarkeit nicht gibt.«
    »Zumindest werden sie uns nicht so hassen, wie sie die Franzosen hassen.«
    »Sind Sie sicher? Zuweilen empfinden wir eine Art Liebe für unsere Feinde, und zuweilen empfinden wir Haß gegen unsere Freunde.«
    »Sie sprechen wie ein Europäer. Diese Leute sind nicht so kompliziert.«
    »Ist es das, was Sie in den paar Monaten gelernt haben? Demnächst werden Sie sie kindlich nennen.«
    »Nun – in gewisser Hinsicht …«
    »Zeigen Sie mir ein unkompliziertes Kind, Pyle. Wenn wir jung sind, sind wir doch ein Dschungel an Kompliziertheiten. Erst mit zunehmendem Alter vereinfachen wir.« Doch wozu redete ich mit ihm? Es lag etwas Unwirkliches in den Argumenten eines jeden von uns beiden. Ich war daran, schon vor der Zeit zum Leitartikler zu werden. Ich stand auf und trat an den Bücherschrank.
    »Was suchen Sie, Thomas?«
    »Ach, nur ein paar Verse, die ich früher einmal sehr mochte. Können Sie mit mir heute abend essen gehen?«
    »Mit dem größten Vergnügen. Ich bin so froh, Thomas, daß Sie nicht mehr böse sind. Ich weiß, daß Sie anderer Meinung sind als ich, aber wir können doch trotz unserer Meinungsverschiedenheit Freunde sein, nicht?«
    »Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht.«
    »Schließlich war doch Phuong viel wichtiger als diese Sache.«
    »Glauben Sie das wirklich, Pyle?«
    »Nun, sie ist das Wichtigste, was es gibt. Für mich. Und für
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