Der Sommermörder
zu füllen. Ich zwang mich, an das Foto der toten Jenny zu denken. An jedes einzelne Detail. Was würde Jenny tun, wenn sie säße, wo ich jetzt saß?
Morris kam aus der Küche. Irgendwie schaffte er es, eine Teekanne, zwei Tassen, einen Milchkarton und eine Packung Kekse zu tragen, alles auf einmal. Er stellte die Sachen auf dem Tisch ab und setzte sich.
»Warte einen Augenblick«, sagte ich, bevor er uns einschenken konnte. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Ich stand auf und ging um den Tisch herum. »Es ist eine Art Zaubertrick.«
Wieder lächelte er mich an. Was für ein nettes Lächeln!
Er machte einen glücklichen, aufgeregten Eindruck. Die Aufregung strahlte wie ein Licht aus seinen Augen. »Ich habe nicht allzu viel Ahnung vom Zaubern«, erklärte ich,
»aber als erste Regel lernt man, dass man seinem Publikum vorher nie sagen darf, was man vorhat. Wenn etwas schief geht, kann man immer noch so tun, als wäre es Absicht gewesen. Schau her!« Ich nahm den Deckel von der Teekanne, hob die Kanne hoch und schleuderte sie ihm mit einer schnellen Bewegung ins Gesicht. Ich selbst bekam auch ein bisschen was ab, empfand dabei aber keinen Schmerz. Morris schrie wie ein Tier. Ich griff nach dem Bügeleisen. Ich hatte nur eine einzige Chance, und alles hing davon ab, dass ich wirklich Schaden anrichtete.
Morris hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen. Ich holte aus und ließ das Bügeleisen dann mit aller Kraft auf sein rechtes Knie niedersausen. Ich hörte ein seltsames Krachen und einen weiteren Schrei. Morris krümmte sich und sackte seitlich vom Stuhl. Was noch? Ich zwang mich, an das Foto zu denken, und spürte, wie meine Wut wieder aufflammte. Sein linker Knöchel lag frei. Ich ließ das Bügeleisen ein zweites Mal auf ihn niedersausen. Wieder dieses Krachen, ein weiterer Schrei. Ich trat einen Schritt zurück, spürte aber im selben Moment eine Hand an meinem Hosenbein. Als ich erneut mit dem Bügeleisen ausholte, ließ er los.
Ich wich zurück, bis ich außerhalb seiner Reichweite war. Verdreht und wimmernd lag er auf dem Boden. Was ich von seinem Gesicht sehen konnte, war feuerrot und mit Blasen bedeckt.
»Wenn du auch nur einen einzigen Zentimeter näher kommst«, sagte ich, »dann breche ich dir jeden verdammten Knochen im Leib! Du weißt, dass ich es tun werde. Ich habe die Fotos gesehen. Ich weiß, was du mit Jenny gemacht hast.«
Trotzdem wich ich weiter zurück, ohne ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann blickte ich mich rasch um und entdeckte das Telefon. Noch immer mit dem Bügeleisen bewaffnet, dessen Kabel hinter mir herschleifte, ging ich hinüber und begann zu wählen.
22. KAPITEL
ch legte auf und blieb neben dem Telefon stehen, so weit von Morris entfernt, wie das in dem I
kleinen Raum
nur möglich war. Er lag noch immer stöhnend auf dem Boden. Sein Atem ging keuchend. Ich fragte mich, ob er wohl gerade dabei war, seine Kräfte zu sammeln, um aufzustehen und sich auf mich zu stürzen. Sollte ich ein weiteres Mal mit dem Bügeleisen auf ihn eindreschen?
Oder sollte ich lieber auf die Straße hinausrennen? Meine Füße waren wie gelähmt. Es gab nichts, was ich tun konnte. Plötzlich begann ich zu zittern. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Im selben Moment begann sich Morris zu bewegen, erst ganz langsam und zögernd, dann immer entschlossener. Vor Anstrengung stöhnend, versuchte er sich aufzurichten. Ein rascher Blick sagte mir, dass er es nicht schaffen würde. Seine Beine waren definitiv außer Gefecht gesetzt. Er konnte sich bloß auf dem Boden dahinschleppen, was ihm offensichtlich große Schmerzen bereitete. Wimmernd lehnte er sich gegen das Bücherregal. Nachdem er sich noch ein wenig weiter hochgeschoben hatte, drehte er sich so, dass er zu mir herübersehen konnte. Sein Gesicht sah wirklich schlimm aus: Wangen und Stirn waren mit Blasen bedeckt, eines seiner Augen fast ganz zugeschwollen. Aus dem geöffneten Mund lief ihm Speichel übers Kinn. Er musste husten.
»Was hast du getan?«
Ich gab ihm keine Antwort.
»Ich verstehe das nicht!«, sagte er. »Ich war es nicht.«
Noch immer umklammerte ich das Bügeleisen fest mit beiden Händen.
»Eine Bewegung, und ich breche dir einen anderen Knochen!«
Er versuchte, die Stellung zu wechseln, und schrie vor Schmerz auf.
»Verdammt!«, keuchte er. »Es tut so weh!«
»Warum hast du sie getötet?«, fragte ich. »Sie hatte Kinder. Was hat sie dir getan?«
»Du bist verrückt«, antwortete er. »Ich
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