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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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was geschehen war. Lena nahm ein drückendes Ziehen in der Brust wahr und gleichzeitig stellte sie sich die Weite des Weltraums vor, in die sie zu stürzen drohte, haltlos. Tante Anna nickte, ohne viel zu sagen, und nahm Lena schweigend an der Schulter. Die hagere alte Frau schob das Mädchen in den Wohnungsflur, schloss die Tür hinter sich und öffnete die dunkle warme Küche, in der es nach Kohl und Kartoffeln roch, dazwischen konnte Lena einen Hauch von Tante Annas Rosenseife wahrnehmen. »Mädel, wir machen uns jetzt eine schöne heiße Milch mit Honig.« Sie holte eine altrosafarbene schwere Wolldecke aus dem Schlafzimmer, drückte das stumme Mädchen auf einen der Küchenstühle, legte die Decke über Lenas Beine, versuchte sie ein wenig einzuwickeln, stellte ihre Füße auf einen mit weichem grünem Stoff gepolsterten Schemel, den sie unter dem Küchentisch hervorzog, und begann mit einem kleinen roten Emailtopf zu hantieren. Lena war es egal, was Tante Anna tat, sie war froh darüber, nicht mit der Mutter ins Krankenhaus zu müssen. Lena überfiel eine Müdigkeit, und nachdem sie die Tasse süßer Milch getrunken hatte, legte sie sich still unter das gelbe warme Licht der Stehlampe, die Tante Anna für sie die ganze Nacht brennen lassen würde, auf das Sofa im Wohnzimmer. »Gute Nacht Mädel, schlaf ruhig. Ich bin da. Es wird schon alles gut werden.«

London Juni 2011
    Ich bin dabei, mir zu notieren, was ich alles vor der Abreise zu erledigen habe, einpacken, die letzten Arbeiten nach der Modenschau koordinieren und für Phillip und Theo, unseren Hund, einkaufen. Morgen bin ich mit Mutter in Bergen-Enkheim verabredet. Sie möchte mir zeigen, wo sie geboren wurde und die ersten Jahre ihres Lebens aufgewachsen ist. Immer noch habe ich Angst vor dem erneuten Aufbrechen der Streitereien, die uns seit meinem Auszug aus der Wohnung in Floridsdorf begleitet haben. Es gab seither immer wieder Zeiten, in denen wir uns mehrere Monate nicht gesprochen haben, nach dem Tod der Zwillinge länger nicht. Ich fühlte mich dann unbelasteter und freier. Zwei Jahre nach meinem Kontaktabbruch schickte sie mir zu Weihnachten ein Paket, das ich zuerst gar nicht in Empfang nehmen wollte. Mit gemischten Gefühlen löste ich die penibel verknotete Kordel, öffnete die mehrfach mit Packpapier umwickelte und fein säuberlich verschlossene Schuhschachtel langsam und staunte, darin den von mir gebastelten Weihnachtsschmuck vorzufinden. Die mit Stanniol beklebten Kartongirlanden und Engel, denen ich weiße Taubenfedern als Zierde angeheftet hatte, sahen inzwischen etwas ramponiert aus, doch sie rührten mich, weil ich mich in den Zustand der kindlichen Inbrunst zurückversetzt fühlte, mit der ich damals Vater durch meine Basteleien davon zu überzeugen versuchte, all seinen atheistischen Widerständen zum Trotz einen Christbaum für uns zu besorgen. Ich hatte mir auch bereits die Argumente überlegt, wusste Vater doch in meinen Augen über alles am besten Bescheid und lies selten Gegenstimmen zu seinen Überzeugungen gelten. Ich schlug ihm einen Ausflug nach Kapfenberg vor, wo ich mich an einen Fichtenwald am Aufstieg vom Redfeld zum Friedhof erinnerte, der dicht bepflanzt war mit jungen Bäumen, dort würden wir eine Tanne in der richtigen Größe für unser Wohnzimmer finden. Eines Abends, als er gut gelaunt mit uns am Küchentisch saß und von seinem Großvater erzählte, brachte ich meine Idee vor und war erstaunt, dass er sofort einwilligte. Vater freute sich, mit mir im Schnee, der in den letzten Tagen gefallen war und ihn in eine milde Stimmung versetzt hatte, die vorweihnachtliche Reise zu unternehmen. Er ließ jedoch offen, ob er sich vor Ort wirklich dazu durchringen könnte, einen Baum für einen derartig albernen Brauch zu opfern. Wir fuhren am darauffolgenden Sonntag mit dem Zug in die Steiermark. Nachdem wir zuerst ein paar Reisigzweige auf das Grab von Urgroßvater und Großvater gelegt hatten und sich meine Enttäuschung langsam zu verdichten begann, weil kein Wort mehr über unseren zukünftigen Christbaum gefallen war, sagte Vater, wir würden den Waldweg hinunter nach Redfeld nehmen. Auf der Reise zurück nach Wien saßen wir zufrieden in unseren Sitzen, die Mäntel dampften feucht, die beschlagenen Scheiben ließen die in der Dunkelheit versunkene Landschaft draußen ahnen. Während Vater nach einer Zeit in der Wärme eingeschlafen war, streifte mein Blick zufrieden von seinem entspannten Gesicht mit dem halb
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