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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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Bombenangriff, als wir uns das erste Mal in Wien begegnet sind. Vielleicht wäre er nicht so alt geworden wie ich, aber wir hätten wohl noch einige Jahre länger miteinander leben können. Gerade in den letzten Tagen sehe ich ihn immer wieder vor mir, ein Bub aus dem gegenüberliegenden Wohnblock, mit seinen braunen Augen und den welligen rötlichen Haaren, erinnert mich an ihn. Wenn ich am frühen Nachmittag im Garten sitze, sehe ich ihm zu, wie er von der Schule heimkommt und seiner Mutter zuwinkt, die ihn vom Balkon aus begrüßt, so als hätte sie bereits auf ihn gewartet. Als Max in diesem Alter war, hat sich für ihn von einem Tag auf den anderen sein ganzes Leben verändert. Das war in den Dreißigerjahren.
    Lena wird heute überrascht sein, denn als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war ich noch nicht auf den Rollstuhl angewiesen. Davon habe ich ihr bis jetzt nichts erzählt. Es war sicherlich ungeschickt von mir, aber ich wollte es ihr in den letzten Monaten, als wir wieder unbeschwerter am Telefon miteinander reden konnten, nicht sagen. Immer wenn ich an Lena denke, habe ich das viel zu dünn geratene Mädchen von früher mit den langen blonden Haaren vor mir. Ich sehe dann ihre tief liegenden Augen, in denen Scham, aber auch etwas von einer Anklage liegt. Dieser Blick hat mich seit dem Tod von Max daran gehindert, ihr gegenüber eine spontane Geste der Zuneigung zu zeigen, als ob er mich davor warnen würde, sie in den Arm zu nehmen. Jetzt in Frankfurt werde ich es versuchen, bevor es in diesem Leben zu spät sein wird. Mich plagt die Sehnsucht nach all der versäumten Zeit gemeinsam mit meinem Kind. Ich habe mir vorgenommen, diesmal mit Lena über die Geschichte mit den Zwillingen zu reden.

Wien September 1965
    Lena drückte ihre Nase an die Scheibe des Schlafzimmers, um besser in den Hinterhof sehen zu können. Dort stand ihr goldfarbenes Fahrrad, das sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, unter dem Dach des Holzschuppens und wurde spärlich von der im Wind schwankenden Hinterhoflampe beleuchtet. Am nächsten Morgen würde sie versuchen, einen anderen Platz dafür zu finden, denn bei starkem Regen wurde es im schmalen Unterstand nass. Sie hätte das Rad am Nachmittag in den Keller stellen sollen, doch sie hatte Angst, allein in die verwinkelten finsteren Gänge hinabzusteigen, die nach Schimmel und Moder rochen. Der Vater würde mit ihr schimpfen, weil sie keine Plane über das Rad gebreitet hatte, aber sie war so stolz auf ihr Gefährt und wollte, dass es alle im Hof sehen konnten. Stundenlang hatte sie am Vortag zahlreiche Runden im Hof gedreht und zuletzt war sie hinauf zur Schule gefahren, wo, wegen der Ferien, keiner der Schulkameraden anzutreffen gewesen war. Aber bald würden sie alle wieder zurückkommen, und Lena konnte sich auf die staunenden Blicke von Klara freuen, die sonst immer die neusten Sachen in die Schule mitbrachte und stolz den anderen vorführte. Das hatte Lena oft geärgert, niemand sonst aus der Klasse konnte sich diese Dinge leisten. Klaras Vater war bei der Sozialistischen Partei in einer wichtigen Funktion und musste manchmal in andere Bundesländer zu Veranstaltungen fahren. Sie wohnte im weitaus großzügigeren Arbeiterwohnhof weiter drüben, wo die Fassaden teils mit Fliesen geschmückt waren. Wenn Lena das hohe Eingangsportal vom halbrunden Vorplatz her durchschritt, staunte sie jedes Mal über die Größe der metallenen Tore, deren Gitterstäbe an der Oberfläche grünlich schimmerten. Der Vater hatte Lena, noch bevor sie Klara in der Schule kennenlernte, auf den Spaziergängen in Floridsdorf vom Wohnbau im sozialistischen Wien der Zwanzigerjahre erzählt. Er hatte ihr auch diese große Wohnanlage gezeigt und erzählt, dass sich dort im Februar 1934 die streikenden Schutzbündler gegen das Bundesheer verteidigt hatten, das auf Geheiß des damaligen Bundeskanzlers Dollfuß mit schwerem Geschütz vorgegangen war. Auch in Bruck und Kapfenberg, wo er aufgewachsen war, sei in diesen Tagen gekämpft worden, und ihr Urgroßvater habe dabei sein Leben verloren. Lena wohnte mit den Eltern im Speiser-Hof, eine kleinere aber doch stattliche Wohnanlage, die aus mehreren ineinander verschachtelten Blöcken und Innenhöfen bestand. Sie war oft bei Klara zu Besuch, um mit ihr und Axel Hausaufgaben zu machen. Wenn sie die Treppen hinaufstieg, strich sie versonnen im Vorbeigehen mit ihrem Zeigefinger an der Wand entlang und versuchte sich vorzustellen, wie bewaffnete Männer
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