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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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verbergen, mit dem er Wache schob, indem er die Frau aufforderte, auch den Rucksack, den sie mit sich trug, zu öffnen, aber es war schon zu spät. Der andere Soldat hatte das matte Glänzen der Waffe bemerkt und sagte bloß, Max solle sich die Mühe sparen, sie würde abgeführt. In den Ausweispapieren war ihm der Name Marga aufgefallen, doch vielleicht hatte er die griechischen Buchstaben lediglich so zurechtgebogen, dass er »Marga« lesen konnte. Damals wartete er bereits sehnsüchtig darauf, endlich wieder nach Wien fahren zu dürfen, denn die Tage mit dem Blick auf das ausgetrocknete Flussbett und die kahlen Berge wurden immer länger. Max wollte diesen Namen nach Kriegsende nicht mehr aussprechen, um nicht den verschreckten Blick der jungen Frau in Griechenland vor sich zu sehen, die versuchte, Haltung zu bewahren, weil sie wusste, was auf sie zukam.
    Max tat den gierigen letzten Zug aus der Zigarette und endlich ließ die Spannung nach. Er fühlte den leichten Lufthauch des Morgens an den Häuserwänden entlangstreichen und die Gesichte der Nacht verblassten, doch das Brennen hinter dem Brustbein blieb, es verlor sich nur kurz, bevor er in den Schlaf abtauchte. Er hatte dann das Gefühl, in einen Raum zu gleiten, in dem er schwerelos schweben konnte. Es gab sie noch, diese Leichtigkeit zwischen Tag und Nacht, zwischen Helligkeit und Dunkelheit. Vielleicht war es auch eine Ahnung von dem, was kommen würde, wenn das Leben aus seinem Körper endgültig weichen sollte.

Basel Juni 2011
    Manchmal vergesse ich, wie laut die Münsterglocken sind, wenn ihr Klang über die Stadt hereinbricht und alle anderen Kirchtürme nach und nach ansteckt. Ich kann in dem Getöse keinen klaren Gedanken fassen, nur zum Himmel blicken und warten. Es liegt auch an dem neuen Hörgerät, dessen exakte Einstellung mir und der geduldigen jungen Dame im Spezialgeschäft in der Altstadt so viel Mühe bereitet hat. Ich weiß gar nicht, ob auch andere Menschen für einen Moment ihr alltägliches Tun innerlich unterbrechen, um auf das alles überlagernde Geläut zu hören. Es ist kurz nach sieben, ich habe noch Zeit.
    Ich sehe mich schemenhaft, als junges Mädchen von elf Jahren, die Abendglocken läuten von der Dorfkirche her, ich wate bis zu den Knien im seichten Uferwasser des Teiches im Ried und blinzle in die untergehende Sonne. Augenblicklich spüre ich den kühlen Luftzug des Abends im Nacken, rieche den dunklen Geruch des grünschwarzen Wassers. Der Vater wird mich gleich rufen, um mit mir gemeinsam den Nachhauseweg anzutreten, die Mutter wartet mit dem Abendessen, der Tisch unter dem Vordach im Hinterhof des Fachwerkhauses ist bereits gedeckt. Der Hund Prinz schüttelt das letzte Nass aus dem schwarzen Fell, lässt nach einem schrillen Pfiff des Vaters den Holzprügel aus den Lefzen fallen und springt im Gras aufgeregt bellend hin und her, um mich zur Eile anzuspornen. Zwei Sommer später sind meine Eltern tot und den Rüden werde ich bei Familie Schmidt im Nachbarhaus zurücklassen. Ich sehe seinen erwartungsvollen Blick, als Onkel Heinrich mich an der Hand hält, um mich mit sich aus dem Treppenhaus zu ziehen, die Türe fällt hinter uns ins Schloss, und Prinz, der große schwarze Mischling, wird vom kleinen Nachbarsbuben Olf fest am Halsband gezogen. Er wird damals noch lange auf mich gewartet haben.
    Drüben auf der anderen Seite des Flusses fliegen drei Kraniche der sanften Biegung des Ufers entlang, und ich stelle mir die Strecke vor, die sie noch zurücklegen, bis sie hinter dem Stauwehr landen werden, dort wo es keine Häuser gibt, wo die Flussufer, mit Schilf bewachsen, die Strömung verlangsamen und Reiher im seichten Wasser waten, in träger Langsamkeit, von Zeit zu Zeit ruckartig vorangetrieben durch einen Schritt. Dort habe ich mit Alexander bei unseren Radtouren an der Uferböschung gepicknickt, hinter uns im dichten Grün, in regelmäßigen Abständen standen graubraune Betonklötze, hockten dort dumpf ins Dickicht geduckt, als letzte Zeugen der blutigen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich in den Vierzigerjahren. Als sie gebaut wurden, wohnte ich in Wien bei Tante Else und Onkel Heinrich und hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich später einmal in Basel leben würde. Wenn ich die Ungetüme dort sah, drängte ich die Bilder zurück, die sich unweigerlich einstellten, aus der Zeit im Krieg zwischen Fliegeralarm und Dienst im Krankenhaus und dem atemlosen Lauf zum Bunker. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich
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