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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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Lena nicht wecken, sein zartes Mädchen, dem er nicht sagen konnte, wie leid es ihm tat, kein richtiger Vater mehr zu sein, der mit ihr manchmal abends Schach oder Karten spielte. Früher hatte er seine beiden Frauen an den Wochenenden ins Kino geführt oder war mit ihnen zu einem gemeinsamen Ausflug in die Berge gefahren, aber das schien inzwischen lange zurück in einer anderen Zeit zu liegen.
    In den letzten Monaten suchten Max vermehrt Erinnerungen vom Krieg heim, die, seit er wieder aus der Narkose erwacht war, ihre verzehrende Glut schmerzhaft hinter seinem Brustbein lodern ließen. Die lose schlenkernden Hosenbeine waren in den letzten Wochen noch weiter geworden. Waren das überhaupt »seine Beine«, diese Nachahmungen von Männerunterschenkeln, mit denen er nur unter Zuhilfenahme der Krücken gehen konnte, um nicht das volle Gewicht des Körpers auf den wunden Enden zu spüren. Das Stechen hörte an manchen Tagen nicht auf, ihn zu quälen, und er hatte gehofft, mit der Amputation würden die Schmerzen ein Ende finden. Max wollte eine Zigarette rauchen und versuchen, sich die erste Zeit seiner Versetzung nach Wien zurückzurufen. Damals hat er Margarethe ins Schikaneder - Kinoeingeladen, nachdem sie am Vortag, in einer Gasse in der Nähe des Südbahnhofs, zusammengestoßen waren. Er erinnerte sich an den Moment des Erstaunens und dann der Empörung in ihrem Gesicht. Er hatte gelacht, beim Blick in diese weit aufgerissenen blauen Augen. Er wollte sich an seine Margarethe von damals erinnern. Eine halbe Stunde zuvor hatten die Entwarnungssirenen beide aus dem Dunkel der Kellerlöcher entlassen, in denen sie Zuflucht gefunden hatten, und sie waren noch am Leben. Warum träumte er nicht von dieser Zeit? Er war ein Krüppel, der für sich selbst, für Margarethe und Lena eine Last darstellte.
    Der Anblick der beiden Beinstümpfe erinnerte Max an die Männer aus den Erzählungen seines Großvaters. Er hatte als Sanitäter in einem Kriegsversehrtenheim gearbeitet, nach1918 , in der Nähe von Wien musste es gewesen sein. Der Großvater hatte Max die in Leder- und Stoffkonstruktionen an der Decke hängenden Rumpfmenschen geschildert, teils hatten sie kein Gesicht, die Augenhöhlen waren leer, das Kinn oder ein Teil der Stirn war weggetrennt, die Ohren abgesengt, nur mehr die Löcher an den Kopfseiten gemahnten an die ursprünglichen Organe. Als Kind hatten diese Schilderungen in Max Bilder von tierähnlichen Kreaturen geweckt, die ohne Gliedmaßen dahinvegetierten. In den Nächten träumte er wild und am Tag fand er keine Ruhe, wenn er sich nicht bemühte, seine Gedanken zu bündeln und sie unter großen Anstrengungen in andere Richtungen zu lenken. Die fliehenden Dorfbewohner fielen ihm ein, entsetzliches Gekreisch, Schüsse, fallende Leiber, blutende Kinder, immer wieder Maschinengewehrsalven. Margarethe konnte er von all dem nichts erzählen.
    Durch den Spalt des Vorhangs drang das schwache Morgenlicht und von draußen hörte er das Trällern des Vogels, das in den letzten Tagen seine Morgenstunden begleitet hatte, noch lange bevor die lautmalerischen Singtiraden der Amseln die Luft erfüllten. Max hatte vor einer Woche den kleinen Kerl das erste Mal gesehen, ein filigraner graugefiederter, am Kopf mit einer schwarzen Haube ausgestatteter Vogelkörper, der sich nach allen Kräften im Geäst reckte, eine Mönchsgrasmücke vielleicht, die der zu voller Länge gestreckten Kehle das wildeste Gezwitscher entlockte. Wenn Max den Vogel hörte, wollte er nicht wehleidig seine Schlaflosigkeit beklagen, wollte sich nicht geschlagen geben. Das Öffnen der Balkontüre gelang ihm leise genug und nachdem er erleichtert im Freien angelangt war, ließ er sich auf den Holzstuhl fallen, dessen Kissen sich von der Feuchtigkeit der Nacht in seinen Fingern klamm anfühlten, wenn er sie mit einem Ruck unter seinem Gesäß zurechtschob. Die Zigaretten hatte er in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt und nach einem kurzen Suchen fand er hinter dem Topf mit dem Thymianstrauch eine halb leere Schachtel Streichhölzer und war erleichtert, nicht noch einmal aufstehen zu müssen.
    Damals, in den Anfangszeiten in Wien, hatte er Margarethe noch Marga genannt, aber nach der Heimkehr nicht mehr, denn er wollte an jene Marga, die ihm in Kastraki, dem kleinen Dorf am Fuße der Felsen von Meteora ihre Handtasche gezeigt hatte, in der eine Pistole versteckt gewesen war, nicht erinnert werden. Er hatte versucht, die Pistole vor dem Kameraden zu
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