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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Autoren: René Grandjean
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wieder.
    „So“, sagte er. „Kann losgehen.“
    „So sprich den Vers, mein schwarzer Freund.“
    „Und Ihr?“
    „Ich helfe dir. Beginn!“
    Und Driftwood begann. Er riss die Arme in die Luft,
und ein Schauer fuhr durch sein Fell. Das Braun seiner weit geöffneten Augen
verflüssigte sich. Wie ein Wasserfall aus morastigen Tränen floss es über seine
Wangen. Rasch wuchsen seine Pupillen. Sie füllten die Augen und strahlten wie
schwarze Sonnen. Seine Füße versanken in der Erde, als er Worte murmelte, nur
für diesen einen Augenblick überliefert. Und unzählige Stimmen fielen mit ein.
Sie erklangen aus den Baumwipfeln, den Büschen, den frostigen Grashalmen unter
der Schneedecke und sogar aus der kalten Erde selbst. Und der Wald bebte unter
ihrer vereinten Kraft.
    „Aus Sonnenlicht bist du gemacht, geboren als ein Kind
gelacht. Flog tagwärts wie ein Schmetterling zur schönsten aller Blüten hin.
Der Helle bist du stets geblieben, so komm herbei, die Welt zu lieben“.
    Und ein dunkler Strahl reiner Magusch entsprang jeder
Faser von Driftwoods Körpers und schoss durch seine ausgestreckten Arme in den
Himmel wie eine Säule schwarzen Wassers. Sie durchbrach die dunklen Wolken am
Firmament, und ein kreisender Strudel bildete sich, durch den die Sonne
sichtbar wurde. Driftwood kippte hintenüber wie ein morscher Baum. Rauchfahnen stiegen
von ihm auf. Er befreite seine Füße aus der Erde und wischte sich den
schmutzigen Schnee vom Pelz.
    „Nun komm schon Socke, ich brauche dich.“ Nur das
unruhige Schwingen seines Schwanzes verriet seine Ungeduld.
    Und dann begann es. Die schwache Wintersonne, vor
einem Augenblick noch ein matter, gelber Punkt, schien sich an ihre alte Kraft
zu erinnern. Wie durch ein Brennglas konzentrierte sich am Rand der Lichtung
ein heller Punkt aus gebündeltem Sonnenschein. Rasch bildete sich dort eine
Pfütze. Driftwood konnte die Bahn der Sonnenstrahlen vor dem hellen Hintergrund
des Schneewalls erkennen, jenseits dessen der Winterwald gespannt den Atem
anhielt. Langsam bewegte sich das Licht auf seinen Standort zu, auf die Mitte
der Lichtung. Wo es den frostigen Boden berührte, hinterließ es einen schmalen
Streif grünen Grases im geschmolzenen Schnee. Nur noch wenige Schritte trennte es
von Driftwoods Position. Er verdrehte die Augen. „Mach schon!“
    Endlich sah es aus, als hätte die Sonne ihr Ziel gefunden.
Das Samenkorn. Die Strahlen bündelten sich noch einmal, wie um ihre gesamte
wunderbare Kraft auf diese eine Aufgabe zu fokussieren. Es galt, die Kälte zu
besiegen. So bildete sich schnell ein kleiner See aus Tauwasser. Ein Knirschen,
als bräche Eis in Stücke, drang aus dem Boden. Grollend öffnete sich ein Spalt.
Die Sonnenstrahlen schienen hinein, eroberten das düstere Erdreich. Einige
Augenblicke vergingen, bevor ganz allmählich der zarte Trieb einer grünen
Pflanze emporwuchs. Es sah aus, als würden die wärmenden Strahlen das grüne
Pflänzchen aus dem Boden locken. Der Trieb streckte sich und bildete zwei zarte
Blättchen, die sich wie Sonnensegel aufspannten. Am höchsten Punkt des Sprosses
entsprang eine weiße Blüte.
    „Komm, mein Freund, der Frühling naht“, hauchte
Driftwood.
    In der Mitte der Blüte erschien ein kleiner schwarzer
Punkt wie eine Johannisbeere. Plötzlich hatte die Blüte Augen. Gelb und knopfförmig.
Sie blinzelten. Es schien, als schaue die Blume selbst nach dem Rechten. Und die
Johannisbeere reckte sich, denn sie war die Nasenspitze. Dann wuchs das Gesicht.
Es war spitz und schwarz um die Augen. Umgeben von den Kronblättern sah es aus
wie eine kleine Sonne. Mit einem leisen Plopp flutschten die Ohren
hervor. Schon war der ganze Kopf zu sehen. Breiter als die Blüte selbst saß er
oben auf. Der zarte Stängel der Pflanze schaukelte nur sacht unter dem Gewicht.
Weiße Pfoten drückten sich ins Freie. Das Geschöpf schien völlig fokussiert auf
seine Aufgabe, keine Regung zeigte sich in dem freundlich anmutenden Gesicht.
Lange Arme drückten sich an den Blütenblättern ab, und ein schlanker, pelziger
Körper hob sich selbst empor. Als nur noch die Füße in der Blume steckten,
kippte es vornüber. Driftwood fing es auf, und legte es vorsichtig auf den
sonnengewärmten Boden.
    „Bist du das, Driftwood?“, fragte das Kind der Blume
schwach.
    „Ja, ich bin es, Socke. Ruh dich aus, mein Freund, wir
haben viel vor“.
    „Ich bin so müde“, sagte Socke leise. Dann schlief er
ein.
    Unbemerkt schwang sich eine Krähe aus dem
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