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Der Sokrates-Club

Der Sokrates-Club

Titel: Der Sokrates-Club
Autoren: Nathalie Weidenfeld , Julian Nida-Ruemelin
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wissen, aber dass wir das, was wir wissen, allein aus der Vernunft ableiten. Für Immanuel Kant, einen der bedeutendsten Philosophen der europäischen Aufklärung und Begründer der Klassischen Deutschen Philosophie, bleibt so das Ding an sich verborgen. Erst die Anschauungsformen von Raum und Zeit, unsere Ordnung der Erscheinungen, ermöglicht empirische Erkenntnis. Für Kant sind diese Anschauungsformen von Raum und Zeit a priori, sie sind keine Verallgemeinerungen, die unserer Erfahrung entstammen, sondern Voraussetzungen dafür, dass wir überhaupt etwas erfahren können. Der dreidimensionale euklidische Raum ist demnach kein empirisches Faktum, sondern eine Annahme, ohne die man physikalische Erkenntnisse nicht gewinnen kann.
    Weniger in der Philosophie, aber dafür umso mehr in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist gegenwärtig viel vom (radikalen) Konstruktivismus die Rede. Demnach ist unsere kulturelle und soziale Realität konstruiert, nicht etwa in dem Sinne, dass einzelne Menschen sich bestimmte Gegenstände konstruieren, sondern in dem Sinne, dass die kulturellen Praktiken bestimmte Gegenstände hervorbringen. Um ein berühmtes Beispiel zu nennen: Die Geschlechter sind nach konstruktivistischer Auffassung konstruiert, wir gehören nicht von Natur aus zu einem Geschlecht, sondern die Geschlechterzugehörigkeit, die Rollen des Mannes und der Frau, beruhen auf bestimmten sozialen und kulturellen Praktiken, auf Erwartungen und Formen der Abrichtung, etwa in der Erziehung, die diese Rollenmuster festlegen. Vieles spricht in der Tat dafür, dass unsere soziale Welt, in der wir leben, zu einem großen Teil konventionell ist, dass etwa die Erwartungen, die wir an Frauen bzw. Männer haben, nicht, oder jedenfalls nicht allein, durch die biologischen Eigenschaften der Geschlechtszugehörigkeit festgelegt sind. Auch die rechtlichen Normierungen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten durften Frauen ohne Zustimmung des Mannes nicht berufstätig sein und keine größeren Rechtsgeschäfte tätigen. Dies brachte ein bestimmtes Geschlechterstereotyp hervor, nach dem der Mann das Oberhaupt der Familie ist, seinerseits die Verantwortung trägt, die Familie durch seine Erwerbstätigkeit zu ernähren, während die Frau sich um Kinder und Haushalt zu kümmern hatte. Das hat sich mittlerweile geändert und ebenfalls in den Normen des Familienrechts niedergeschlagen. Aber auch wenn die spezifischen Erwartungen an die Geschlechter sich im Laufe der Zeit und von Kultur zu Kultur wandeln, scheint es nicht zutreffend zu sein, dass die Eigenschaft, Mann oder Frau zu sein, vollständig sozial und kulturell konstruiert ist.
    Betrachten wir ein weiteres Beispiel: das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gehört zu den Grundrechten unserer Verfassung. Nun könnte man sagen, es sei erst die Verabschiedung des Grundgesetzes gewesen, die dieses Recht konstruiert habe, zuvor habe es dies, ausweislich der Praktiken der Nationalsozialisten, in Deutschland nicht gegeben. Die Interpretation ist aber nicht überzeugend, denn dann könnten wir nicht mehr sagen, dass die NS -Diktatur das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit von Millionen von Menschen verletzt habe. Die Menschenrechtsverletzungen der NS -Diktatur haben stattgefunden, ganz unabhängig davon, wie die jeweiligen Rechtsnormen des NS -Staates gefasst waren. Konstruktivisten kritisieren eine solche Auffassung, dass Dinge notwendige, fest bestimmte Eigenschaften haben, als Essentialismus. Tatsächlich aber setzt jede Form von seriöser Kritik voraus, dass es normative Sachverhalte gibt, deren Existenz nicht lediglich von den Konstruktionen einer Kultur abhängt. Entweder wir beschränken uns auf die kritiklose Beschreibung kultureller Praktiken und Regeln, oder wir postulieren so etwas wie moralische, allgemeiner gesagt, normative Sachverhalte und die Existenz objektiver moralischer Sachverhalte, wie etwa die der Menschenrechte. Ein radikaler Konstruktivismus oder eine radikale Skepsis, gar eine nihilistische, alles verneinende Auffassung, ist in der Lebenswelt nicht durchzuhalten. Menschen, die solchen Auffassungen anhängen, leben nach Regeln, die mit dieser unvereinbar sind. In diesem Sinne kann man ernsthaft, das heißt in der lebensweltlichen Praxis des Handelns, der Interaktionen und der Verständigung nicht bestehen, ohne Realitäten anzuerkennen. Nach unserer Erfahrung
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