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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Autoren: Torsten Fink
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Bach, der sich durch das Gras in Richtung Westen schlängelte, bis er ein gutes Stück südlich der Schwarzen Berge im Sand der Slahan versickerte. Weit vorher aber floss er durch das Lager Aryaks, und das war ihr Ziel. Sie ritten in scharfem Trab. Schließlich entdeckte Awin eine Staubwolke, die über dem Lager zu stehen schien.
    »Ich glaube, sie brechen das Lager ab, Meister«, rief Awin.
    Curru warf ihm einen missmutigen Blick zu.
    »Dort vorne, der viele Staub«, erklärte Awin.
    »Meinst du, das habe ich nicht schon längst gesehen, mein Junge?«, entgegnete Curru. Und er gab seinem Pferd die Fersen und galoppierte davon.
    Awin seufzte und folgte ihm. Sie umrundeten ein schütteres Birkenwäldchen, und dann sahen sie die ersten Rundzelte. Das Lager erweckte den Anschein eines einzigen großen Durcheinanders. Frauen und Männer waren dabei, die Zelte abzuschlagen. Pflöcke wurden aus dem Boden gezogen, lange Stangen gebündelt und Lederbahnen zusammengefaltet, Pferde mussten angeschirrt und die leichten Wagen mit den Habseligkeiten beladen werden. Dazwischen versuchten Kinder, die Ziegen zusammenzutreiben. Es war ein vertrauter Anblick, denn so ging es stets, wenn der Klan weiterzog. Deshalb wusste Awin auch, dass diesem scheinbaren Chaos in Wahrheit eine strenge Ordnung zu Grunde lag. Das alles war schon tausendmal geschehen, und
jeder Handgriff saß. Nur, dass dieses Mal alles viel schneller zu gehen schien. Und wo war das Gelächter, und wo waren die Spötteleien, die diese lästige Arbeit sonst zu erleichtern pflegten? Selbst die Kinder lachten nicht. Awin folgte Curru bis zu den ersten Zelten und hielt Ausschau nach seiner Schwester.
    »Awin, hier!«, rief Gunwa, die ihn zuerst gesehen hatte, und lief ihm entgegen. Sie war ein Jahr jünger als er und hatte die nussbraunen Haare ihrer Mutter.
    Er trieb sein Pferd durch eine Gruppe Ziegen zu ihr. »Weißt du, was hier vorgeht?«, fragte er, obwohl er es eigentlich schon wusste.
    »Wir müssen fort, hat der Yaman gesagt. Lewe kam vorhin über die Weide. Halbtot vor Angst. Kein Wort kann er sprechen, sagen sie, aber seine Kleider reden für ihn. Sie sind rot von Blut.«
    »Und sein Vater und seine Brüder?« Awin dachte an Anak, denn der war nur ein wenig älter als er selbst, und sie waren gut befreundet. Aber seine Schwester wusste nicht mehr, als sie schon gesagt hatte. Sein Falbe schnaubte unwillig, weil Ziegen zwischen seinen Beinen hindurchdrängten.
    »Pass doch auf, Großer, du bist im Weg«, rief eine helle Kinderstimme. Awin lenkte sein Pferd zur Seite und sprang aus dem Sattel.
    »Gunwa, Gunwa! Wo steckst du?«, rief eine heisere Frauenstimme. »Soll ich das alles hier alleine schleppen?« Im Gewühl der Zeltbahnen tauchte ein grauer Frauenkopf auf.
    »Ich komme schon, Mutter Egwa!«, rief Gunwa zurück. Egwa war nicht ihre leibliche Mutter. Sie war die Gefährtin von Curru. Die beiden hatten Awin und seine Schwester nach dem Tod ihrer Mutter an Kindes statt aufgenommen.
    »Ah, dein nichtsnutziger Bruder ist auch wieder da. Du wirst im Zelt des Yamans erwartet, Awin, also beeile dich. Und sag es
auch Curru, wenn er nicht schon dort ist! Und du, Gunwa? Was ist mit den Seilen? Glaubst du, die rollen sich von selbst auf? Mach schon, Mädchen, denn Eile ist geboten!«
    Gunwa seufzte und lief. Es war nicht ratsam, ihrer Ziehmutter nicht zu gehorchen. Awin versuchte, in dem Durcheinander die Übersicht zu behalten. Der vertraute Anblick, den das Lager noch am Morgen geboten hatte, versank gerade in einer Staubwolke. Allein das Zelt des Sippenoberhauptes stand noch unberührt. Awin packte sein Tier am Zügel und zog es hinter sich her. Er sah die drei Söhne des Yamans vor dem Eingang. Ebu und Ech wirkten ernst und gefasst, aber Eri, der jüngste, konnte vor Aufregung nicht still stehen.
    »Warum brechen wir nicht endlich auf?«, rief er gerade. »Diese Untat schreit doch nach Rache.«
    »Fasse dich in Geduld, kleiner Bruder«, wies ihn Ech sanft zurecht, »wir wissen doch noch gar nicht, was geschehen ist.«
    Ein Tuch wurde zur Seite geschlagen, und zwei Frauen erschienen. Sie waren beide leichenblass. Es handelte sich um Sigil, die Frau Elwahs, die sich kaum auf den Beinen halten konnte, und ihre Schwiegertochter Hengil, die sie stützte. Sie warf Eri einen vorwurfsvollen Blick zu, den der Knabe aber nicht verstand. »Wir werden deinen Mann rächen, Sigil, das verspreche ich dir!«, rief er mit heller Stimme. Die Frau zuckte zusammen und wandte sich ab.
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