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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator
Autoren: Marco Lalli
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»Stellen Sie immer alles in Frage?«
    »Das ist mein Job.«
    Sie nickte, jetzt ernster. »Die Simulatorik ist ein junges Fach. Ich interessiere mich sehr dafür. Ich könnte Ihnen einen Lehrauftrag an der Hochschule Karlsruhe vermitteln. Das würde dort sehr gut ins Curriculum passen.«
    »Und warum sollte ich das wohl tun?«
    Sie lachte. »Wegen des Geldes wohl kaum, denn da verdient man nicht viel. Aus Berufung? Des Ruhms wegen? Der hübschen Studentinnen?«
    »Sind sie so hübsch wie Sie?«
    »Mindestens so hübsch und um einiges jünger.«
    Diesmal musste ich lachen. Eigentlich hatte ich gehen wollen, aber Kerstin bewog mich zu bleiben. »Setzen Sie sich doch!«
    »Gerne.« Sie schob einen Hocker näher an meinen heran. »Erzählen Sie mir von dem Simulator. Man mutmaßt so viel hier auf den Stockwerken, aber Kowalski übt sich nur in schönen Reden. Nichts Genaues weiß man nicht.«
    »Ach, wissen Sie«, ich gab dem Barkeeper ein Zeichen, mir noch ein Glas zu machen. »Eigentlich ist es eine alte Idee.« In ihren Augen spiegelte sich hell das Licht der Halogenspots, und ich fragte mich, was sie wirklich wusste. »Unsere ganze Kunst als Meinungsforscher besteht darin, die Menschen zu befragen. Was hältst du von unserem Bundeskanzler, von der Grünen Fortschrittspartei, bist du bereit, neun Cent für eine Videominute zu bezahlen, sollen Babyflaschen mit Donald Duck-Motiven verziert werden oder mit Winnie Puuh?« Kerstin Klier war schön, sie war intelligent und erfolgreich, aber irgendetwas hielt mich davon ab, mich ernsthaft für sie zu interessieren. »Aber natürlich können wir nicht alle Menschen befragen, also befragen wir eine kleine Gruppe von ihnen...«
    »…eine Stichprobe«, warf sie ein, und ich meinte, einen ironischen Unterton aus ihrer Stimme heraus zu hören. »Sie sehen, auch als qualitative Marktforscherin hat man eine vage Vorstellung von Statistik.«
    »Ja, eine Stichprobe.« Ich ließ mich nicht beirren. »Wenn man eine gute Stichprobe hat, lassen sich die Ergebnisse auch auf jene Personen übertragen, die man nicht befragt hat. Wenn man zweitausend Menschen befragt, ist es so, als hätte man 80 Millionen befragt.«
    »Das ist toll.«
    Diesmal musste ich lachen. »Ja, in der Theorie.«
    »Und in der Praxis?«
    »In der Praxis ist es mühsam – und teuer, sehr teuer. Außerdem wollen uns die Menschen manchmal nicht antworten, oder sie geben sich keine Mühe, oder sie lügen uns einfach an…«
    »Auch wenn es strafbar ist.«
    »Ja, seit dem neuen Demoskopiegesetz ist es strafbar, aber kennen Sie einen Fall, wo man jemanden deswegen verurteilt hätte?« Es war eine rhetorische Frage. »Unwissenheit ist nicht strafbar und auch nicht Dummheit oder Faulheit. Noch nicht.« Warum hatte Kowalski sie auf mich angesetzt? Wie weit würde sie gehen, um den Auftrag ihres Chefs zu erfüllen? »Und dann gibt es jene, die man gar nicht befragen kann, die in Urlaub gefahren sind oder im Keller mit ihrem Flugsimulator spielen und nicht ans Videofon gehen oder im Krankenhaus liegen und Befragungsschutz genießen. Unzählige Ausnahmegenehmigungen oder Sonderregelungen. Mit jeder Ausnahme verschlechtern sich die Ergebnisse ein kleines Stück.«
    »Ja, das ganze läuft aus dem Ruder. Es gibt immer mehr Marktforscher und immer mehr Interviewer, die immer weniger herausfinden.«
    »Und was noch schlimmer ist, die Akzeptanz in der Bevölkerung ist im Keller. Es ist fast wieder so wie früher. Menschen, die auf ihre Privatsphäre pochen, auf ihr Recht, sich Befragungen zu verweigern, Menschen, die sich gegen ungebetene Anrufe und Hausbesuche wehren.«
    »Und da kommt Blinzle…«
    »Ja, Blinzle.« Plötzlich hatte ich meinen ehemaligen Chef vor Augen, der Mann mit den großen Ideen, den allumfassenden Entwürfen. So altmodisch er in seinem Oldtimer, seinem Porsche 356, wirkte, so kompromisslos verfolgte er das, was er für die Zukunft hielt.
    Er hatte fünfundzwanzig Jahre zuvor das Sinex-Milieumodell gemeinsam mit Kowalski entwickelt. Ein Abbild der Wirklichkeit, in dem neun soziale Milieus das gesellschaftliche Leben widerspiegeln. Neun Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Lebensweisen, Einkaufsgewohnheiten und Produktpräferenzen, Musik-und Wohnstilen. Wenn man das soziale Milieu einer Person kannte, war es einfach, die bevorzugte Fernsehsendung herauszufinden, den Inhalt ihrer MP7-Sammlung oder das Design der Couch zu erraten, die im Wohnzimmer stand, das Modell des Autos in der
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