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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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verbrachte viel
Zeit an der Uni und bewegte sich ansonsten ausschließlich in ihrem
Freundeskreis.«
    »Und was sagen die Freunde?«
    »Dass es Lara überhaupt nicht ähnlich sieht, einfach so zu
verschwinden. Allerdings soll sie sich in der letzten Zeit verändert haben: Sie
war oft müde und zerstreut.«
    »Gibt es keinen Freund, keinen Flirt?«
    »Die Einzelverbindungsnachweise ihres Handys verzeichnen keinerlei
Anrufe, die nicht ihrem Freundeskreis zugeordnet werden können. Niemand wusste
etwas von einem Freund.«
    »Internet?«
    »Sie hat sich in der Bibliothek ihrer Fakultät eingewählt oder in
einem Internetcafé am Bahnhof. In ihrem Eingangsverzeichnis wurden keinerlei
verdächtige E-Mails gefunden.«
    In diesem Moment wurde die Glastür des Cafés aufgerissen, und ein
neuer Gast brachte einen kalten Windstoß herein. Alle bis auf Marcus, der
seinen Gedanken nachhing, drehten sich genervt um. »Lara kommt wie jeden Abend
nach Hause. Sie ist müde, wie so oft in der letzten Zeit. Ihr letzter Kontakt
mit der Außenwelt ereignet sich um 22 Uhr 19, danach schaltet sie das Handy
aus. Es verschwindet mit ihr und wird nie wieder eingeschaltet. Danach verliert
sich jede Spur. Es fehlen Kleidungsstücke, Geld und ein Rucksack: Deshalb geht
die Polizei von einem freiwilligen Verschwinden aus … Lara hat das Haus
verlassen – vielleicht allein, vielleicht in Begleitung. Niemand hat etwas bemerkt.«
Marcus musterte Clemente. »Warum müssen wir davon ausgehen, dass ihr etwas
zugestoßen ist? Warum überhaupt wir?«
    Clementes Blick sprach Bände. Darum ging es, um Auffälligkeiten, im Grunde war es das, wonach sie suchten. Nach winzigen Rissen in der Maske der
Normalität. Nach kleinen logischen Brüchen, hinter denen oft mehr steckte, als
man zunächst dachte, nämlich eine andere, kaum vorstellbare Wahrheit. Und an
dieser Stelle kamen sie ins Spiel.
    »Lara hat das Haus nie verlassen, Marcus. Ihre Tür war von innen
verschlossen.«
    Clemente und Marcus begaben sich direkt dorthin. Das Haus
lag in der Via dei Coronari, nur zwei Schritte von der Piazza San Salvatore in
Lauro mit der kleinen Kirche aus dem sechzehnten Jahrhundert entfernt. Sie
brauchten nur wenige Sekunden, um sich Zutritt zur Erdgeschosswohnung zu verschaffen.
Niemand bekam etwas mit.
    Schon beim Betreten von Laras Wohnung sah Marcus sich um. Als Erstes
fiel ihm das aufgebrochene Türschloss auf. Um in Laras Wohnung zu kommen, hatte
die Polizei die Tür aufbrechen müssen. Dabei hatten die Beamten die von innen
vorgelegte Kette übersehen, die gerissen war und jetzt am Türrahmen baumelte.
    Die Wohnung hatte höchstens sechzig Quadratmeter, verteilt auf zwei
Etagen. Unten gab es einen einzigen großen Raum mit Küchenzeile: einen
Elektroherd an der Wand, darüber offene Regale. Daneben ein Kühlschrank mit
lauter bunten Magneten, darauf ein Übertopf mit einem inzwischen vertrockneten
Alpenveilchen. Vier Stühle und ein Tisch, auf dem ein Tablett mit Tassen und
Teeutensilien stand. Zwei Sofas über Eck vor einem Fernseher. An den grün
gestrichenen Wänden hingen keine Bilder oder Poster, sondern Grund- und
Aufrisse berühmter Bauwerke aus aller Welt. Das Fenster, das wie alle dieser
Wohnung auf den Innenhof hinausging, war durch Eisenstäbe gesichert. Auf diesem
Weg hatte also niemand einsteigen oder verschwinden können.
    Marcus erfasste jedes noch so kleine Detail. Er bekreuzigte sich
stumm, was Clemente ihm sofort nachtat. Dann ging er im Zimmer umher. Doch es
genügte ihm nicht, nur zu schauen: Er berührte die Gegenstände, strich leicht
darüber, als wollte er einen Rest Energie, ja, irgendein Signal erspüren. Als
könnten die Dinge mit ihm kommunizieren, ihm mitteilen, was sie wussten oder
gesehen hatten. Wie ein Wünschelrutengänger, der dem Ruf einer versteckten Wasserader
folgt, lotete Marcus das Schweigen der unbelebten Gegenstände aus.
    Clemente beobachtete ihn dabei, hielt sich aber im Hintergrund, um
ihn nicht abzulenken. Er konnte keinerlei Verunsicherung feststellen,
stattdessen wirkte sein Mann konzentriert und energisch. Es war ein wichtiger
Test für sie beide: Marcus merkte, dass er dem Job, für den man ihn ausgebildet
hatte, wieder gewachsen war, und Clemente, dass er sich nicht getäuscht hatte.
    Er beobachtete, wie Marcus auf das Ende des Raumes zuging, wo eine
Tür zu einem kleinen Bad führte. Es war weiß gefliest und wurde von einer
Neonröhre beleuchtet. Die Duschkabine befand sich zwischen Waschbecken und
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