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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm
Autoren: Frank Schätzing
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willst du weiterleben, Leon?«, fragt Crowe.
    »Weil ...« Anawak zuckt die Achseln. »Ganz einfach. Weil es jemanden gibt, für den ich weiterleben möchte.«
    »Happy End«, seufzt Johanson. »Ich wusste es.«
    Crowe lächelt Anawak an.
    »Solltest du am Ende verliebt sein, Leon?«
    »Am Ende?« Anawak überlegt. »Ja. Ich schätze, am Ende bin ich wohl verliebt.«
    Sie unterhalten sich weiter, und die Stimmen verhallen in Weavers Kopf, bis sie sich mit dem Rauschen der Wellen vermischt haben.
    Traumtänzerin, denkt sie. Du elende Traumtänzerin.
    Sie ist wieder allein.
     
    Weaver weint.
    Nach etwa einer Stunde wird es ruhiger. Nach einer weiteren Stunde hat der Wind so weit nachgelassen, dass die Wogen zu ausgedehnten Hügeln verflacht sind.
    Drei Stunden später wagt sie es, die Kuppel zu öffnen.
    Mit einem Klicken löst sich die Arretierung. Summend fährt die Abdeckung hoch. Eisige Kälte umgibt sie. Sie starrt hinaus und sieht in der Ferne einen Buckel auftauchen und wieder verschwinden. Es ist kein Orca, der sich nähert, sondern etwas Größeres. Beim zweiten Auf- und Abtauchen, nun wesentlich näher, stößt die gewaltige Fluke aus dem Wasser.
    Ein Buckelwal.
    Kurz überlegt sie, die Röhre wieder zu schließen. Aber was hat sie dem Tonnengewicht eines Buckelwals entgegenzusetzen? Ob sie nun in der Röhre liegt oder aufrecht darin sitzt. Wenn der Wal nicht will, dass sie die nächsten paar Minuten überlebt, dann überlebt sie nicht.
    Der Buckel hebt sich ein weiteres Mal aus dem gekräuselten Grau. Das Tier ist riesig. Es bleibt an der Wasseroberfläche, dicht neben dem Boot. So nah zieht es vorbei, dass Weaver nur die Hand ausstrecken müsste, um den schartigen, seepockenbewachsenen Kopf zu berühren. Der Wal dreht sich auf die Seite, und sein linkes Auge mustert die kleine Frau in der Maschine einige Sekunden.
    Weaver erwidert den Blick.
    Knallend entlädt sich der Blas des Wals. Dann taucht er langsam ab, ohne eine einzige Welle zu verursachen, verschwindet im grauen Wasser und ist nur noch eine Erinnerung.
    Weaver klammert sich an den Rand der Röhre.
    Er hat nicht angegriffen.
    Der Wal hat ihr nichts getan.
    Sie kann es kaum glauben. Ihr ganzer Schädel dröhnt. Es schwirrt in ihren Ohren. Während sie noch ins Wasser starrt, hört sie das Schwirren und Dröhnen näher kommen, und es ist nicht in ihrem Schädel. Es dringt aus der Luft zu ihr herab, wird zu einem Wummern, ganz nah jetzt, ohrenbetäubend, und Weaver wendet den Kopf.
    Der Helikopter steht tief über dem Wasser.
    Menschen drängen sich in der geöffneten Seitentür. Soldaten und jemand in Zivil, der ihr zuwinkt, mit beiden Armen. Jemand, dessen Mund weit offen steht, weil er den aussichtslosen Versuch unternimmt, das Knattern der Rotoren zu übertönen.
    Am Ende wird er es besiegen, doch im Augenblick siegt die Maschine.
    Weaver weint und lacht zugleich.
    Es ist Leon Anawak.

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    Epilog
    Aus den Chroniken von Samantha Crowe

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    15. August
    Nichts ist mehr, wie es war.
    Heute vor einem Jahr sank die Independence. Ich habe beschlossen, Tagebuch zu führen. Ein Jahr danach. Offenbar brauchen Menschen immer irgendein symbolisches Datum, um Dinge zu beginnen oder zu beenden. Nicht, dass es an Aufzeichnungen über die Ereignisse der letzten Monate mangeln würde. Aber es sind nicht meine Gedanken, die da niedergeschrieben werden, und ich möchte mich eines Tages gerne der Gültigkeit meiner Erinnerungen versichern.
    In den Morgenstunden habe ich Leon angerufen. Er war damals die Alternative Verbrennen, Ertrinken oder Erfrieren. Genau genommen verdanke ich ihm gleich zweimal mein Leben. Nachdem das Schiff gesunken war, hätte ich immer noch sterben können, bis auf die Knochen nass vom Eiswasser, mit einem gebrochenen Fußgelenk und ohne jede Hoffnung, dass uns jemand auffischt. Das Zodiac hatte eine Überlebensausrüstung an Bord, aber ich bezweifle, ob ich alleine damit klargekommen wäre. Unmittelbar nach dem Untergang der Independence muss ich zu allem Überfluss in Ohnmacht gefallen sein. Bis heute weigert sich mein Hirn, diese letzte Sequenz abzuspielen. Ich erinnere mich, dass wir die Rampe hinunterstürzten, mein allerletzter Eindruck ist Wasser. Aufgewacht bin ich in einem Krankenhaus. Mit Unterkühlungen, einer Lungenentzündung, einer Gehirnerschütterung und dem dringenden Verlangen nach Nikotin.
    Leon geht es gut. Karen und er sind derzeit in London. Wir haben über die Toten gesprochen. Über Sigur Johanson, der
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