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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels
Autoren: Reginald Hill
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gegründet!«
    Lillingstone lachte amüsiert und sagte: »Schade, dass ich Cage nicht mehr kennengelernt habe.«
    »Er war wirklich bemerkenswert. Er starb übrigens auf der Kanzel. Zehn Minuten lang hat es keiner gemerkt. Seine rhetorischen Pausen waren in der letzten Zeit immer länger geworden. Er nahm – in Schrift und Rede – kein Blatt vor den Mund. Zur Entspannung oder, wie er sich ausdrückte, um sich der Versuchung zu entziehen (wenngleich er über die Art der Versuchung nie nähere Angaben machte), schrieb er an einer Geschichte der Pfarrei. Sie sind doch selber Historiker, oder? Wenn das Fleisch mal gar zu schwach wird, könnten Sie durchaus Charleys Beispiel folgen. Der ganze Archivkram ist noch im Pfarrhaus. Sollte mal durchforstet werden, bevor unsere Herren und Meister Ihnen das Haus unterm Hintern weg verkaufen.«
    »Klingt vielversprechend«, sagte Lillingstone. »Allerdings, wenn Cages Arbeit schon sehr weit gediehen war …«
    »Ja, allerdings. Er hat mir mehrere Rohfassungen gezeigt. Faszinierend, aber größtenteils für die Veröffentlichung völlig ungeeignet! Nein, nehmen Sie sich meinen Rat zu Herzen, Larry. Wenn der Motor da drinnen allzu hochtourig läuft und zuviel Treibstoff schluckt, geht nichts über den Staub der Vergangenheit, um die Leitung zu stopfen!«
    Der junge Pfarrer hatte dies als einen Scherz verstanden, bis ihn, kurz nach seiner Amtseinführung, der Wunsch, diejenigen Schäfchen seiner Herde kennenzulernen, die nicht in der Kirche gewesen waren (also die Mehrheit), über die Schwelle der Eendale-Galerie führte.
    Er hatte sofort einige Gemälde bemerkt, deren Qualität das Einerlei der Aquarelle mit heimischen Motiven, welche größtenteils die Wände füllten, bei weitem überragte. Besonders ein kleines Acrylbild war ihm ins Auge gefallen, eine Darstellung seiner Kirche, die dunkel vor einem schwefelfarben aufgewühlten Himmel stand, wobei der schiefe Winkel des Turms so übertrieben war, dass es aussah, als müsste es den Bau jeden Moment zerreißen.
    Beim Reinkommen war niemand in der Galerie gewesen, und er war so in die Betrachtung des Gemäldes vertieft, dass er nicht hörte, wie die hintere Tür geöffnet wurde.
    Dann hüstelte jemand leise, und eine Stimme sagte: »Kann ich Ihnen helfen?«
    Er drehte sich um und erblickte die Scudamore-Schwestern, oder genauer gesagt, erblickte er Caddy, und er wusste, dass er mehr Hilfe benötigen würde, als ihm irgend jemand hienieden gewähren konnte.
    Es war ein
coup de foudre
, eine so übermächtige Woge des Verlangens, dass er glaubte, jedes Gramm seines Fleischs sei in Brand gesetzt.
    Er stammelte mit schwerer Zunge: »Die Kirche … ich würde mir gerne die Kirche ansehen …«
    Kee Scudamore, die er nur schemenhaft wahrgenommen hatte und die ihm neben Caddys funkensprühender Fleischlichkeit fade und blutleer erschien, sagte: »Die Kirche? Vielleicht sollten Sie den Pfarrer fragen.«
    »Ich
bin
der Pfarrer«, hörte er sich idiotischerweise sagen, und das kleinere, dunklere und unendlich blühendere Mädchen legte die farbverschmierte Hand vor einen Mund, der dazu angetan war, einem Mann die Seele aus dem Leib zu saugen, und versuchte, ihr Kichern zu unterdrücken.
    »Sie meinen das Bild? Selbstverständlich«, sagte die kühle Blonde.
    Sie ging an ihm vorbei, klappte ein Treppchen auf, stieg hinauf und hängte das Gemälde ab.
    Auf dem Heimweg hatte er das Bild, in Packpapier eingewickelt, unter dem Arm getragen. Es hatte ihn mehr gekostet, als er sich leisten konnte, doch was zählte das Geld, wo er sich bewusst war, dass ihn dieser Besuch vermutlich noch unendlich viel teurer zu stehen kommen würde?
    Er hatte sich verliebt, ein Mann, der nichts zu bieten hatte, ein Mann, der ein Gelübde zu halten hatte, von dem ihn niemand entbinden konnte. Er bezweifelte nicht, dass er, wenn er seinen Freund, den Bischof, um Rat fragen würde, von diesem pragmatischen Prälaten alle nur erdenkliche Rückenstärkung erwarten durfte. Er würde zu hören bekommen: »Besser heiraten als brennen.« Doch die entscheidende Frage war, wo er brennen würde! Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er an eine physische Hölle glaubte, doch er wusste, dass sein Glaube an den Ernst eines Gelübdes dem eines Thomas More kaum nachstand.
    Und so hatte er sich mit einem glühenden Eifer in seine Gemeindearbeit gestürzt, der ihm schon bald höchstes Lob einbrachte, und in seiner »freien« Zeit hatte er sich der Versuchung entzogen,
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