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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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trägt einen eigens für diesen Anlaß vorgeschriebenen Kopfputz. Bei ihrer Ankunft zerreißt man Knallbonbons, um die bösen Geister zu verscheuchen, die sie möglicherweise begleiten. Die Braut muß von einer Frau geleitet werden, die mindestens einen lebenden Sohn hat. Um den Hals trägt sie ein Spiegelchen, damit kein böser Geist von ihrem Körper Besitz ergreifen kann. (Die bösen Geister sind nämlich so häßlich, daß sie vor ihrem eigenen Spiegelbild erschrecken und davonlaufen.)
    Die Braut muß die Schwelle zuerst mit dem linken Fuß überschreiten und sich zum Familienaltar begeben, wo die Seelentäfelchen der Ahnen des Bräutigams aufgestellt sind. Vor ihnen vollzieht sie den vorgeschriebenen Kotau und berührt dabei neunmal mit der Stirne den Boden. Dann trinken Braut und Bräutigam gemeinsam Wein aus zwei Schalen, die mit einem roten Seidenband lose verbunden sind. Daraufhin gelten sie als gesetzlich verheiratet.»
     
    «Leider Gottes habe ich keine Ahnentäfelchen», sagte ich, als wir so weit gekommen waren. «Aber ich könnte mir welche machen lassen, wenn die alten Familienbilder nicht genügen sollten.»
    «Die genügen sicher nicht», meinte Kuniang. «Und im übrigen ist meiner Meinung nach eine chinesische Hochzeit damit noch lange nicht erledigt. Ich habe schon viele gesehen. Eine lange Prozession zieht durch die Straßen, und dann wird drei Tage lang gegessen. Außerdem benötigt man symbolische Geschenke: eine Ente, einen Karpfen und eine Gans mit rotangestrichenem Kopf. Und alle Gäste verspotten die Braut und machen unfeine Scherze über sie.»
    «Gewiß. Aber heute hält man sich mehr an die westlichen Sitten. Der Bräutigam trägt Frack und Zylinder, die er sich eigens für die Feier ausgeliehen hat. Und eine Militärkapelle wird engagiert, um den Trauermarsch von Chopin und ein Potpourri aus der zu spielen.»
     
    Das Endergebnis aller Erkundigungen und Besprechungen war, was ich von Anfang an gehofft hatte: nach einigen Monaten beruhigten sich Kuniangs Nerven völlig. Sie erklärte sich bereit, zu heiraten, und zwar nicht unbedingt nach chinesischem Ritus. Sie wünschte nur, daß die Trauung nicht in Peking stattfinden sollte, sondern in Charbin, wo der italienische Konsul ein alter Freund Signor Cantes war. Freudig begrüßte sie auch meinen Vorschlag, von Charbin nach Europa zu fahren, für ein Jahr, für mehr oder auch weniger, wie es sich eben ergab, und dann erst in das Heim der Fünf Tugenden zurückzukehren, das unterdessen Onkel Podger und Unvergleichliche Tugend betreuen mochten.
    Die chinesischen Bahnen bieten dem Publikum eine recht behagliche Möglichkeit, der Wanderlust zu frönen, ganz zu schweigen von einem besonderen Nervenkitzel; man kann nämlich nie wissen, ob nicht hundert Kilometer von weiß Gott wo ein Räubergeneral den Zug zum Stehen bringt und die Lokomotive für seine eigenen Zwecke einfach abkoppelt. Aber im Frühjahr 1919 war auf der ganzen Welt das Reisen wenig vergnüglich, außer vielleicht in Amerika. Die transsibirische Bahn galt als unbenützbar. Es gab zwar Leute, die «durchgekommen» waren, aber kein vernünftiger Mensch zog diesen Weg der Seereise vor, sei es auch in einem noch so überfüllten Dampfer.
    Kuniang und ich hätten kaum einen schlechteren Zeitpunkt für unsere Europareise wählen können. Peking und die Vertragshäfen glichen zu jener Zeit friedlichen Oasen inmitten einer Welt, die kaum aus dem Blutbad des Krieges gestiegen war. Vierundzwanzig Stunden, nachdem wir im Bahnhof vor dem Chien Mên den Peking-Mukden-Expreß bestiegen hatten, erkannten wir allmählich, in welche Abenteuer wir uns einließen. Bis Chanchun, der Endstation der südmandschurischen Bahn, ging alles soweit glatt, aber danach — entlang der Ostgrenze Rußlands — folgte ein Gebiet wüstester Unordnung.
    Die Waggons der in russischem Besitz befindlichen «Ostchinesischen Bahn», die wir ab Chanchun benützten, sahen aus, als hätte man sie seit dem Sturz des Zarismus nicht mehr gereinigt. Die meisten Fenster waren zerbrochen, der Fußboden zwei Zoll hoch mit Staub, Zigarettenasche und tausenderlei Krimskrams bedeckt. Sogar völlig wertlos gewordene Papierrubel kugelten zwischen Eierschalen, Hühnerknochen, Papierfetzen und Teeblättern herum. Es hätte sich gelohnt, archäologische Grabungen anzustellen. Aber etwas hatte der Eisenbahnverkehr vor früheren, besseren Zeiten voraus: kein Reisender mußte befürchten, von Banditen angegriffen zu
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