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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm
Autoren: Vladimir Sorokin
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war fast vollständig zugeweht, nur hie und da sah man einmal eine Wegstange aus dem Schnee ragen oder ein paar nackte Zweige im Wind schaukeln. Immer noch rieselte der Schnee in grießkorngroßen Flocken den Pferden auf den Rücken.
    »Warum haben die keine Abdeckung?«, fragte der Doktor.
    »Die frische Luft tut denen gut, die Plane können wir später immer noch drüberziehn«, antwortete der Krächz.
    Dem Doktor fiel auf, dass der Fuhrmann beinahe die ganze Zeit lächelte.
    Wohl ein herzensguter Kerl!, dachte der Doktor und knüpfte ein Gespräch mit ihm an.

    »Zahlt es sich aus für dich, Kleinpferde zu halten?«
    »Ach, wie soll ich sagen, der Herr«, erwiderte der Krächz, sein Lächeln wurde noch breiter und entblößte die schief stehenden Zähne. »Solang es fürs Brot reicht und für den Kwas, möcht man zufrieden sein.«
    »Du fährst Brot?«
    »Sozusagen.«
    »Lebst du allein?«
    »Ja.«
    »Wie kommts?«
    »Die Ermattung hat nach mir gegriffen.«
    Impotentia coeundi, verstand der Doktor.
    »Heißt das, du warst früher verheiratet?«
    »War ich«, bekannte der Krächz lächelnd. »Zwei Jahre war ich mit ihr beisamm. Und wies über mich kam, merkt ich auf einmal, dass ich des Weibes Leibs nich mehr Herr bin. Welche will mit so einem leben?«
    »Sie hat dich verlassen?«, fragte der Doktor und richtete seinen Kneifer.
    »Ja nu. Bloß gut!«
    Die nächste Werst fuhren sie schweigend. Die Pferde liefen ein gutes Tempo – weder zu hastig noch zu träge, man merkte, dass sie gepflegt und gut im Futter waren.
    »Ists denn nicht langweilig, allein in so einem Nest?«, fragte der Doktor.
    »I wo. Zum Langweiln iss keine Zeit. Im Sommer fahr ich Heu.«
    »Und im Winter?«
    »Im Winter … Euch!«, sagte der Krächz lachend.
    Auch Platon Garin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. In des Krächzens Nähe fühlte er sich zunehmend wohl und behaglich, die Gereiztheit schwand, er hörte auf, sich und andere anzutreiben. Dieser Krächz würde ihn an Ort und Stelle bringen, was immer geschähe, so viel war ihm nun klar; und er, Garin, konnte seine Pflicht tun, den Menschen zu Hilfe kommen, sie vor der schrecklichen Krankheit bewahren. Das Gesicht des Kutschers hatte etwas Vogelhaftes, so schien es dem Doktor – keck und hilflos zugleich, arglos und gut; dieses lächelnde Spitznasengesicht mit dem schütteren roten Bärtchen, den verquollenen Augenschlitzen unter der unförmigen alten Fellmütze mit den Ohrenklappen schaukelte neben dem Doktor im Rhythmus des Mobils und war, so schien es, vollauf zufrieden mit allem: dem Gefährt, dem sanft in die Nase zwackenden Frost, seinen brav dahinlaufenden Pferdchen, auch diesem Doktor mit dem Kneifer und der Fuchsschwanzmütze, wer weiß woher aufgekreuzt mit seinen wichtigen Taschen, und mit der endlos glatten weißen Weite, die sich vor ihnen erstreckte und immer mehr im wirbelnden Schnee versank.
    »Verdingst du dich auch anderweitig?«, wollte der Doktor wissen.
    »Wozu sollt ich … Das Geld von Staats wegen langt mir. Einmal war ich bei wem in Solouchi in Dienst, da hab ich gemerkt: Fremde Kost liegt schwer im Magen. Ich fahr lieber mein Brot. Bin froh, dass ich den Posten hab.«
    »Wie kommst du eigentlich zu dem Spitznamen?«
    »Ach«, lachte der Fuhrmann, »den haben sie mir in meiner Jugend verpasst, da war ich mal im Forst arbeiten, ne Schneise roden. Wir haben in Baracken gehaust. Zwischendurch kriegt ichs auf der Plauze und musste nachts immer husten. Alle wollten schlafen und konnten nich, weil ich ihnen was vorgekläfft hab. Da warn sie wütend auf mich und hielten mich auf Trab deswegen: Wenn wir uns wegen deinem Gekrächze die Nächte um die Ohren schlagen, dann machs gefälligst wieder gut und hackHolz! Heiz den Ofen an! Hol Wasser! Die haben mir die Hölle heißgemacht für mein Husten. Krächz, mach dies, Krächz, mach das! Ich war ja auch mit der Jüngste im ganzen Artel. Und seither hängt der Name mir an. Immer nur: der Krächz.«
    »Eigentlich heißt du Kosma?«
    »Na genau.«
    »Bist du den Nachthusten denn wieder los, Kosma?«
    »Jo! Da ist der liebe Gott vor. Manchmal ziehts im Rücken, wenn das Wetter umschlägt. Aber sonst bin ich gesund.«
    »Und fährst Brot …«
    »Genau.«
    »Ist es nicht gefährlich, so allein zu fahren?«
    »I wo. Alleine isses am besten, der Herr. Was die alten Kutscher warn, die meinten immer: Wer alleine fährt, der hat auf jeder Schulter nen Engel sitzen. Wer zu zwein fährt, hat nur einen. Und wer zu dritt fährt,
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