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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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lange genug im Bett gelegen. Er geht in die Küche und reibt sich die Augen. Es ist elf Uhr. Ein neues Mädchen ist gekommen, das er noch nicht kennt. Sie sieht solide aus, hat ihren Hut noch auf und trägt eine weiße Bluse.
    »Nehmen Sie doch Zucker«, sagt Lotte gerade zu ihr, die im Morgenrock in der Küche sitzt. Sie hat die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und trinkt ihren Milchkaffee in kleinen Schlucken.
    So geht das immer vor sich. Die Mädchen müssen zahm werden. Im Anfang wagen sie keinen Zucker zu nehmen. Sie betrachten die Zuckerstücke, als wären es Wertgegenstände. Und mit der Milch und allem anderen machen sie es ebenso. Nach einiger Zeit muß man sie dann hinauswerfen, weil sie die Schränke ausplündern. Aber Lotte würde sie sowieso vor die Tür setzen.
    Sie sind noch brav. Wenn sie sich hinsetzen, pressen sie die Knie aneinander. Die meisten tragen ein Kostüm wie Sissy mit dunklem Rock und heller Bluse.
    Wenn sie sich nur nicht so verändern würden!
    Denn gerade so mögen die Kunden sie. Aber nicht in der Aufmachung, in der sie sich am Morgen zeigen. Dann sitzen sie alle wie im Familienkreis ungewaschen und mit fettig glänzender Haut am Tisch, trinken Kaffee, essen, was sie wollen, rauchen eine Zigarette und schlendern durch die Wohnung.
    »Bügelst du mir meine Hose?« fragt Frank seine Mutter.
    Da die Steckdose im Salon ist, legt Lotte ein Brett auf die Lehnen von zwei Sesseln.
    Der Eunuch?
    Zweifellos haben die Nachbarn Angst vor ihm; all jene, die die Leiche heute morgen im Schnee gesehen haben, werden den ganzen Tag kein ruhiges Gewissen haben.
    Frank hat sich nur des Revolvers wegen Sorgen gemacht. Gegen neun Uhr ist er einen Augenblick aufgestanden in der Absicht, ihn aus der Tasche seines Mantels zu holen und irgendwo zu verstecken.
    Aber wo soll er ihn verstecken? Und vor wem?
    Berta wird bestimmt nichts verraten, höchstens aus Dummheit. Die andere, die Kleine im Kostüm, deren Namen er noch nicht weiß, wird schweigen, weil sie eine Neue ist, weil sie Hunger hat und hier etwas zu essen bekommt.
    Seine Mutter ist ihm gleichgültig. Er ist hier der Herr. Auch wenn sie sich manchmal auflehnt, sie weiß, daß sie nichts zu sagen hat und daß sie schließlich doch das tun wird, was Frank will.
    Er ist nicht groß. Er ist eher klein. Eine Zeitlang – aber das ist schon lange her – hat er hohe Absätze getragen, um größer zu wirken. Er ist auch nicht dick, aber kräftig und breitschultrig.
    Er hat einen hellen Teint wie Lotte, blondes Haar und blaugraue Augen.
    Warum haben die Mädchen, obwohl er noch nicht neunzehn Jahre ist, Angst vor ihm? Manchmal könnte man ihn für ein Kind halten. Wenn er wollte, könnte er wahrscheinlich zärtlich sein, aber er gibt sich erst gar nicht die Mühe.
    Das Erstaunlichste ist seine Ruhe, die so gar nicht zu seinem Alter paßt. Schon als kleiner Junge, als er kaum laufen konnte und einen großen Lockenkopf hatte, fand man, er sehe aus wie ein kleiner Erwachsener. Er plagt sich mit nichts. Er gestikuliert nicht. Man sieht ihn selten laufen. Nur selten wird er wütend, und noch seltener spricht er mit lauter Stimme. Eins der Mädchen, mit dem er ziemlich oft geschlafen hat, hat einmal seinen Kopf in ihre Arme genommen und ihn gefragt, warum er so traurig sei.
    Sie wollte es nicht glauben, als er ihr, sich von ihr losmachend, in nüchternem Ton antwortete:
    »Ich bin nicht traurig. Ich bin nie im Leben traurig gewesen.«
    Vielleicht war es wahr. Er war nicht traurig, aber er hatte auch nie das Bedürfnis, zu lachen oder zu scherzen. Er blieb immer ruhig, und das war den Leuten sicher etwas unheimlich.
    Auch jetzt, da er an Holst denkt, ist er vollkommen ruhig. Er spürt nicht die geringste Angst. Höchstens etwas Neugier.
    Hier trinkt man Kaffee mit Zucker und richtiger Sahne, man streicht Butter aufs Brot oder Marmelade oder Honig. Das Brot ist fast weiß, wie man es im ganzen Viertel sonst nur noch bei Timo bekommt.
    Was essen die gegenüber? Was ißt Gerhard Holst? Was ißt seine Tochter Sissy?
    »Du hast ja fast nichts gegessen«, bemerkt Lotte, die sich wie immer den Bauch vollgestopft hat.
    Sie hat einst, als die anderen zu essen hatten, so sehr gehungert, daß sie immer wieder fürchtet, ihr Sohn esse nicht genug, und am liebsten möchte sie ihn wie eine Gans mästen.
    Er bringt den Schwung nicht auf, sich anzuziehen. Übrigens hat er um diese Zeit draußen ja auch nichts zu suchen. Er schlendert in der Wohnung umher und sieht Lotte zu, wie sie
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