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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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der Lust braucht man nie zu blasen, die nährt sich von Luft, und Luft umgibt die ganze Erde. Der Duft verwandelte die eisige Kajüte in eine menschliche Unterkunft, er stieg durch die Luke auf wie ein Jubelruf, und die Männer strömten herbei. Die meisten im gleichen Alter wie ihr Kapitän, aber mit rauer Haut, wie gegerbt, und steif in den Bewegungen; ihre Geschmeidigkeit werden sie erst wiederfinden, wenn das Schiff auf See fährt. Hier an Land ist es ein gestrandeter Wal, aber es glänzt wie Silber, sobald es Wasser unter den Kiel bekommt.
    Lange saßen sie unten in der Kajüte zusammen, und Jonni holte noch mehr Schnee, den er wie ein zu Späßen aufgelegter Gott in schwarzen Kaffee verwandelte, sie zitterten ein bisschen in der Kälte, sie kauten Tabak, fluchten ausgelassen, kippten noch mehr Kaffee in sich hinein. Morgen hält man’s hier schon wieder besser aus, sagte einer der Männer zu dem Jungen, der zwischen zwei breitschultrigen Kerlen eingeklemmt saß und sich an ihnen wärmte. Die wettergegerbten Gesichter schauten alle mit solcher Freude und Wärme auf Brynjólfur, dass sie schön waren wie ein Sommertag. Eine der Kojen war vernagelt, zwei schmale Latten über Kreuz. Das ist die Koje von Ola dem Norweger. Du hast ihn nicht gekannt, den Ola, sagten sie zu dem Jungen. Das war vielleicht einer! Sie seufzten in Erinnerung und auch darüber, wie die Zeit vergeht; allmählich nimmt sie einem alles, und die Vergangenheit wird ein immer größerer Teil des Lebens. Sie seufzten, nahmen sich noch mehr Kaffee, mehr Tabak, sie wärmten alte Geschichten über Ola wieder auf, bliesen in die Glut der Erinnerung, ahmten fast mit Tränen in den Augen seine besondere Art zu sprechen nach. Er hatte sein Norwegisch größtenteils vergessen, Isländisch aber nie richtig gelernt und sich eine eigene Sprache irgendwo dazwischen zusammengebastelt, die aus beiden und zugleich aus keiner von beiden bestand, nur seine Besatzungskameraden waren imstande, ihn ohne Probleme zu verstehen. Dann kam er ums Leben, ertrank bei spiegelblankem Wetter bei Neðribryggja, sah den Mond sich in der glatten See spiegeln und wollte zu ihm hineinspringen. Er ertrank auf der Suche nach der Schönheit. Ach ja. Und als wir das nächste Mal ausliefen, hatte er es sich in der besten Koje gemütlich gemacht, da wollte er sein, sonst nirgendwo. Der arme Kerl hat sich über die langen Wintermonate vielleicht gemopst! Und deswegen ist sie vernagelt, sagten sie abschließend zu dem Jungen, der Ola brauchte eine Ruhestatt und hat sich die beste Koje dafür ausgesucht, damit mussten wir uns abfinden, aber im Gegenzug beschützt er uns vor manchem Bösen.
    Wovor denn so?, fragte der Junge.
    Die Männer guckten ihn verwundert an. So was fragte man eigentlich nicht. Sie schüttelten sich kurz, nahmen noch einen Priem, kauten schweigend, ratlos. Na ja, irgendwo muss der Gute doch schlafen, meinte Jonni schließlich, und die Männer nickten beifällig. Das war eine gute Antwort, der Jonni ist gewieft, doch da platzte es aus dem Jungen heraus: Aber schlafen die Toten denn?

VIII
     
    An jenem Tag, der so still und hell beginnt, jedenfalls hell genug, um uns an Frühling und grünes Sommergras zu erinnern, der dann aber bald in Schnee verschwimmt, besteht die erste Arbeit des Jungen darin, nur mit einem unvollständigen Wörterbuch und seiner Phantasie bewaffnet, einen kurzen englischen Text ins Isländische zu übersetzen. Er sitzt in der Gaststube, Kolbeinn ist noch oben in seinem Zimmer, schläft vielleicht oder träumt von Butterblumen und Gelächter, ja, hoffentlich hat der alte Skipper es geschafft, die Luke zu öffnen und in die Unterwelt des Schlafs zu gelangen, wo das Gras viele Farben hat und man zuweilen eine ganz besondere Ruhe findet. Woher kommt diese Welt, und was wird aus ihr, wenn du stirbst? Der Junge betrachtet den englischen Text und versteht kaum ein Wort: It was the best of times, it was the worst of times.
    Du sollst es übersetzen, hatte Helga zu ihm gesagt, und ihm das Blatt mit dem englischen Text, ein Wörterbuch, Papier und Bleistift zugeschoben. Wer Stift und Papier hat, verfügt über Möglichkeiten, die Welt zu verändern.
    Übersetzen, wiederholte der Junge.
    Du sollst was lernen, sagte Helga. Das ist der Anfang, manch einer hat mit weniger angefangen.
    Er wollte einiges dazu fragen, Erklärungen bekommen; woher zum Beispiel dieser Text stammte, warum auf Englisch, wozu sollte er etwas lernen, wäre er dann irgendwie wichtiger,
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