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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Platz bei ihm freiwillig auf.
    Der Junge gab keine Antwort, ihm fiel keine ein, vielleicht wollte er auch nicht, Friðriks Gegenwart schüchterte ihn ein, sein Hals wurde trocken, und er pries sich glücklich, als Geirþrúður eintrat. Sie grüßte nicht, meinte nur: Welche Überraschung, und Friðrik erhob sich, richtete sich zu voller Größe auf, es wurde dunkler im Zimmer.
    Ich muss mit dir reden.
    Selbstverständlich. Aus einem anderen Grund wirst du auch kaum hierherkommen. Das Raue in Geirþrúðurs Stimme stach hervor, Rabengekrächz anstelle eines Herzens. Friðrik ignorierte die mögliche Ironie ihrer Antwort, lächelte, entblößte zwei Reihen kräftiger Zähne. Unter vier Augen, sagte er weich.
    Geirþrúður stand neben dem Jungen, der einen schwachen Duft von Nacht und Träumen wahrnahm, da lag ein grüner Schleier über den dunklen Augen, die einem Meer glichen, in dem viele ertrunken sind.
    Das hier ist übrigens mein Stiefsohn, erklärte sie ruhig, und ein Lächeln oder zumindest der Ansatz eines Lächelns zuckte in einem ihrer Mundwinkel auf.
    Wenn du es so wünschst, antwortete Friðrik höflich und verbeugte sich leicht.
    Hat Helga dir den Text gegeben?, fragte sie den Jungen. Er nickte. Dann geh nach vorn in die Schankstube und fang an, daran zu arbeiten. Heute beginnt deine Ausbildung, morgen Abend sollst du ihn vorlesen.
    An der Tür drehte sich der Junge um. Friðrik stand noch an Ort und Stelle und füllte den Raum aus, Geirþrúður stand vor ihm, die Augen voll ertrunkener Männer.
    Und dann sitzt er über diesen englischen Wörtern, mit Stift, Papier und einem lückenhaften Wörterbuch, es schneit, weiße Farbe fällt vom Himmel, Trauer der Engel, aber warum sind sie traurig? It was the best of times, it was the worst of times. Er hat die Wörter nachgeschlagen, die er in diesen ersten Sätzen nicht verstanden hat, er fühlt sich ein bisschen wie ein Zauberer, ein verunglückter Zauberer allerdings, mit gebrochenem Zauberstab, aber den Zauber spürt er doch und vergisst Friðrik, vergisst überhaupt alles, er will eine ferne Welt aufspüren, ein fremdes Denken, fremde Erfahrungen, sie in die isländische Sprache verpflanzen, vielleicht wachsen dann Pflanzen und Bäume, die eine neue Farbe, einen neuen Duft aufweisen. Er blickt durch die Wörter hindurch, und alles wird neu, wahrscheinlich sind es vor allem die Wörter, die die Welt verändern.
    Der englische Text füllt zwei ganze Seiten, bis auf Weiteres erst einmal eine Menge unbegreiflicher Zeichen, aber nach einer guten Stunde harter Arbeit hat er vier Sätze geknackt. Er ist aufgebrochen ins Unbegreifliche und mit der Spur eines Gedichts zurückgekommen, und er fühlt den Schatz in sich, als er sich über die Worte beugt. Ist das ein Dasein, das Leben, das er vermisst hat, ohne es zu kennen? Ins Ungewisse und Unbegreifliche vorzudringen und mit einem Strauß Wörter wiederzukehren, der alles auf einmal enthält: Feuerholz, Blüten und Messer. Schweigen über allem, nur die Schneeflocken fallen und Worte, die etwas Geheimnisvolles enthalten, eine Botschaft an die Welt.
    Vier Zeilen in der Stunde sind natürlich nicht viel, aber diese vier Zeilen waren zum Staunen, sie waren wie Flügel. Dann aber wurde er gestört. Lúlli und Oddur kamen in die Wirtschaft, die beiden Männer, die im Ort Schnee räumen. Es ist ihre Arbeit, auf die weiße Farbe loszugehen, und an der herrscht hier selten Mangel. Seit fünf Uhr in der Frühe hatten sie Schnee geräumt, vier Stunden lang geschaufelt; bei den drei großen Geschäften hatten sie angefangen, die kleinen mussten sich mit dem Rest ihrer Zeit begnügen. Die Ungerechtigkeiten im Leben zeigen sich, wohin man auch guckt, selbst beim Schneeschieben. Die beiden hatten ihren Kaffee getrunken, englische Biskuits gegessen, die Krümel sorgsam mit angefeuchtetem Zeigefinger aufgenommen und den Jungen nicht aus den Augen gelassen, der da über den Wörtern kauerte, eingetaucht in eine Welt jenseits der Wirklichkeit. Etwas in seinem Verhalten führte dazu, dass Oddur ihn bat, einen Brief für ihn aufzusetzen, eine Art Heiratsantrag, verstand der Junge, Oddur war selbstverständlich zu schüchtern oder zu aufgeregt, um sich klar auszudrücken, sowieso spricht hier kaum einmal jemand unumwunden von solchen Dingen.
    Ob der Junge das tun wolle, wo er nun offenbar wusste, wie man einen Stift hielt, für Oddur einen Brief schreiben, einen Brief an eine Frau namens Rakel.
    Sie ist, sagte Oddur, dunkelblond, hat
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