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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Autoren: Samia Shariff
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Sie hielt die Erfolgsaussichten in meinem Fall für gering, weil wir aus Frankreich kamen – also aus einem Land, in dem geordnete Verhältnisse herrschten.
    Als die Sozialarbeiterin mir mitteilte, dass sie für mich einen Termin bei einer Psychologin vereinbart hatte, war ich sehr erleichtert, denn ich spürte, dass ich Hilfe brauchte.
    Es war meine erste Begegnung mit einer Psychologin. Ich fühlte mich von Anfang an wohl bei dieser Frau, denn sie flößte mir Vertrauen ein. Nach und nach schilderte ich ihr mein Leben, meine Leiden ebenso wie meine Enttäuschungen, Ängste und Sorgen. Sie hörte mir zu, und ich fühlte mich verstanden. Durch unsere Gespräche entdeckte ich langsam meine Energie wieder, die unter dem Einfluss meiner Eltern und meines ersten Ehemanns jahrelang verkümmert war. Endlich begann ich die Ängste, die mich in Algerien beherrscht hatten, zu verarbeiten und war dadurch in der Lage, neue Hindernisse besser anzugehen.
    Da mein Selbstvertrauen wuchs, konnte ich nun auch den Menschen, die mich unterstützten, größeres Vertrauen schenken: meiner Sozialarbeiterin, meiner Anwältin und denMitarbeiterinnen des Frauenhauses. Auch auf die Hilfe von Madame Perron, der Psychologin, konnte ich zählen. Sie wollte ein Gutachten verfassen, das die Entscheidung des Richters zu meinen Gunsten beeinflussen konnte.
    Im Hier und Jetzt zu leben – das war zu meiner Maxime geworden, die mir half, die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen. Auch meine Töchter beherzigten diesen Gedanken, sodass auch ihre Ängste abnahmen und sie die kleinen Freuden des täglichen Lebens genießen konnten.
    Die Jungen erwähnten ab und zu immer noch die bösen bärtigen Männer, die sie bedroht hatten. Dann sprachen sie auch von ihrer Angst. Ich hörte ihnen aufmerksam zu, denn ich hoffte, dass sie auf diesem Wege ihre negativen Erfahrungen hinter sich lassen würden. Vor allem wollten sie auf gar keinen Fall noch einmal in Notunterkünften oder französischen Hotels leben. Am schlimmsten war für sie die Erinnerung an das Hotel Kacke : Allein der Name genügte, um hysterisches Gelächter auszulösen. Sie wollten für immer hierbleiben und Kanadier werden.
    Schließlich erhielt ich den Bescheid, dass die Anhörung vor dem Richter, der über unseren Asylantrag entscheiden sollte, für den 10. Oktober anberaumt worden war. Dabei war es mir erst seit Kurzem möglich, nachts ruhig und fest zu schlafen!
    Meine Töchter hatten mit dieser Vorladung gerechnet und wussten, wie viel davon abhing. Doch die Zwillinge reagierten völlig verständnislos.
    »Warum will der Richter uns Fragen stellen?«, fragte Elias, der immer als Erster das Wort ergriff.
    »Er möchte einfach nur wissen, warum wir unbedingt in Kanada bleiben wollen, mein Liebling.«
    »Das brauchen wir ihm doch nicht zu erklären, denn wir sind ja schon Kanadier. Wir sind hier zu Hause!«, entgegnete Elias im Brustton der Überzeugung.
    »Wir sollen diesen Mann überzeugen, dass wir in Montréal bleiben müssen, weil wir hier in Frieden leben können und uns zu Hause fühlen.«
    »Wenn er nicht will, dass wir hierbleiben, gehen wir dann nach Frankreich oder nach Algerien zu Papa zurück?«
    Seine Stimme zitterte so, dass es mir wehtat.
    »Mach dir keine Sorgen, mein Liebling. Der Richter wird uns nicht fortschicken. Mein Schutzengel hat es mir heute Morgen gesagt.«
    Als mich Melissa eines Abends erschöpft und niedergeschlagen zu Hause vorfand, schlug sie vor, dass wir uns heute im Zentrum von Montréal vergnügen sollten. Zuerst fand ich diese Idee abwegig, doch dann sagte ich mir, dass ich nichts verlieren würde, wenn ich mich einmal genauso amüsierte wie die einheimischen Frauen! Sollte unser Asylantrag abgelehnt werden, hätte ich wenigstens einmal das Nachtleben dieser schönen Stadt genossen!
    Norah erbot sich sogleich, ihre Brüder zu hüten, um mir dieses kleine Abenteuer zu ermöglichen. Wie zwei Komplizinnen zogen Melissa und ich unsere schönsten Kleider an und schminkten uns sorgfältig. Ich war aufgeregt wie ein Backfisch.
    Bevor wir aufbrachen, wollte ich noch einmal mein Make-up im Spiegel begutachten und bestaunte das Bild, das sich mir bot. Diese Frau kannte ich überhaupt nicht. Sie kam mir jung, hübsch, lebensfroh und verführerisch vor! Ich warf meinem Spiegelbild ein Lächeln zu und fühlte mich rundherum wohl in meiner Haut.
    Durch eine Freundin hatte Melissa eine arabische Diskothek kennengelernt. Den ganzen Abend tanzten wir zu Liedern und
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