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Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)

Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)

Titel: Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Autoren: A. J. Kazinski
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Jugendpsychiatrie,
    13 . Juni 2011, 08.55 Uhr
    Das Blut. Es ist das Blut, an das ich denke. Das Blut auf dem Boden, an den Wänden und auf ihrem Gesicht. Das Blut auf dem Messer und an ihren Händen und Fingern und Nägeln. Als hätte sie sich selbst mit roter Farbe angemalt.
    Doch bis dahin denke ich an Kakao.
    Seit damals habe ich nie wieder Kakao getrunken, nicht einen Tropfen. Allein wenn ich an den Geschmack denke, dreht sich mir der Magen um. Es ist ein Geschmack von Trauer. Trauer über das Geschehene. Das Gefühl des Versagens, der Ohnmacht. Das dann gleich abgelöst wird von einem unheimlichen Drang nach Rache.
    Ich bin gerade erst aufgewacht. Die Sonne scheint durch die Jalousien. Weiße Wände umgeben mich. So frisch gestrichen, dass ich die Lösungsmittel noch riechen kann. Es hängt nichts an den Wänden. Rauputz in gebrochenem Weiß. Sie nennen es Klinik, dabei ist es in Wahrheit eine Zelle. Vier Wände, herausgerissen aus der übrigen Welt. So lebe ich. Und so will ich leben. Jenseits der Welt. Nur eine Sache kann das ändern: Sie müssen den Schuldigen finden und ihn für die fürchterliche Untat bestrafen, die er begangen hat, als er vor acht Jahren meine Mama umbrachte.
    Kakao . Ich stehe unter der Dusche und habe den Geschmack noch immer auf der Zunge. Und dann kommt die Übelkeit. War um hat Mutter sich für Kakao entschieden? Weil der intensive Geschmack der Schokolade jedweden Beigeschmack der Betäubungsmittel überlagerte? Ich bin nie misstrauisch geworden. Es war das gleiche Muster wie immer: Mama klopfte, und ich nahm das Glas und trank es aus, ohne darüber nachzudenken. Wie vermutlich alle anderen Fünfjährigen auch. Oder war da doch so etwas wie Misstrauen? Vermutlich. Schließlich hatte ich irgendwann damit begonnen, den Kakao in die Blumentöpfe zu gießen. Warum wollte ich immer wach in meinem Zimmer liegen und den Geräuschen lauschen, die mir schon damals nicht ganz geheuer waren? Kinder wissen genau, wenn etwas nicht stimmt. Und eigentlich brauchte ich mir auch nur Vater anzuschauen und mich zu fragen, was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, was ich wusste. Die Antwort wäre unerträglich gewesen. Das wusste ich schon damals. Ebenso unerträglich, wie es für mich war, die Geräusche zu hören, die Mutter und der Schuldige im Schlafzimmer machten. Und vorher das Warten auf das Klingeln und die Stimmen im Flur, wenn Mutter den Schuldigen empfing, während ich in meinem Zimmer lag, den Geschmack von Kakao auf der Zunge, und merkte – ja, wirklich merkte –, dass etwas nicht stimmte. Wie oft kam er? Wie viele Tage ging das? Ich habe nicht gezählt, aber zwei oder drei Monate können es durchaus gewesen sein. Wusste Vater, was da vor sich ging? Das ist eine der Fragen, die ich mir immer wieder stelle. Ich glaube aber nicht. Ich glaube, dass er jeden Tag von der Arbeit nach Hause kam und Mutter und mich in dem Glauben küsste, dass alles so war, wie es sein sollte.
    Eine dünne Schicht Staub liegt auf den Jalousien. Wie frisch gefallener Schnee. Ich ziehe sie hoch, sitze eine Weile am Fenster. Ein paar der anderen Patienten frühstücken unten im Park. Ich erkenne einen Jungen, er ist vielleicht zwölf Jahre alt und hat gestern den ganzen Tag über im Speisesaal gesessen und unverständliche Dinge vor sich hin gebrabbelt und sich dabei am Kopf gekratzt. Kinder und Jugendliche, die wie ich eine Schraube locker haben, sollten besser observiert werden, wie sie das nennen. Die geschlossene Abteilung. Acht Kinder. 32 Angestellte. Ein Ort für Kinder, die für sich selbst eine Gefahr sind. Oder für andere. Die Sonne brennt schon. Ich schließe die Augen.
    Von dem Tag mit dem Blut weiß ich nicht mehr viel. Ich erinnere mich nur noch an die rote Farbe und an den Streit zwischen Mutter und dem Schuldigen, den ich durch die Wand verfolgt habe. An den Regen, der an meine Scheibe hämmerte, und an das kleine Stückchen des Schuldigen, das ich durch das Schlüsselloch gesehen habe. Schwarze Haare, unrasiert, groß. Mehr habe ich nicht gesehen, bevor Mutter zu schreien anfing und alle anderen Geräusche verstummten.
    »Silke?«
    Diese Stimme. So zuckersüß. Hinten von der Tür.
    »Guten Morgen, Silke. Wie geht es dir?«
    Die Stimme eines kleinen Mädchens aus dem Mund einer erwachsenen Frau.
    »Silke, hast du Hunger? Hast du schon gefrühstückt?«
    Die Schwestern und Pfleger sagen um diese Uhrzeit in der Re gel immer das Gleiche. Die Variationen sind minimal. Heute redete sie ein bisschen
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